Man sagt immer Geschichte würde sich nicht wiederholen. Dieser Ansicht bin ich nicht. Vor etwas über 100 Jahren hatten die Menschen ähnliche Ängste wie heute. Die Eisenbahn dampfte immer schneller, die Kutsche und das Pferd wurde vom Auto abgelöst, Überseedampfer wie die “Titanic” wetteiferten ums “Blaue Band”. Schneller, weiter, höher, und der Mount Everest mit George Mallory stand auch auf der Agenda. Die Zeitenwende damals hat deutliche Ähnlichkeit mit der rotierenden Windrose dieser Tage, dem momentanen digitalen Umschwung, und auch mit dem herandämmernden Krieg.
Wie heute hatte beispielsweise Zentraleuropa dreißig bis vierzig Jahre keinen Krieg. Da wurde es so manchem zu wohl ums Gemüt, man denke an die Jubelgedichte von Thomas Mann. Auch denke man an den Inspekteur der Bundeswehr. Er hatte die kühne Idee, dass die Soldaten bessere Schuhe haben sollten. Es brach ein Sturm der Entrüstung los. Wozu Schuhe? Wozu Soldaten? In der sogenannten besseren Gesellschaft lebte es sich damals wie heute hervorragend. Der Nachwuchs war genauso auswattiert wie unsere Kinder in ihrer heutigen Komfortzone.
Über den Zustand eines Landes kann man sehr gut urteilen wenn man sich die Essgewohnheiten genauer anschaut. In Frankreich, dem kulturellen Zentrum des damaligen Europas entwickelte sich die Grande Cuisine zu einem Niveau, das heute noch Gültigkeit hat. Es war die Zeit der Verfeinerung von Speisen und was serviert wurde, das durfte im Idealfall aussehen wie ein duftiges Gemälde von Edgar Degas. Mir geht der Spruch des Berufsschullehrers nicht aus dem Kopf, der vor Jahren vor sich hinidiotierte: “Wir Köche sind die Picassos am Tellers!”
Die “Belle Epoque” war von größerem Kaliber und auch die große Zeit des Hotel Adlon. Der Küchenstar dieser Jahre, Auguste Escoffier, war der Kaiser der Küche. Der blassere Kaiser Wilhelm II bat den Küchenstar ins Restaurant, um ihm zu danken. Der Koch, durchaus mit stramm aufgepumpten Selbstwertgefühl ließ dem Kaiser ausrichten, dass er doch in die Küche kommen solle, um dem Kaiser der Küche sein Aufwartung zu machen. Wilhelm II unterwarf sich und besuchte die Küche des Adlon.
Wie verwöhnt, überfeinert und in gewissem Maße dekadent die Zeitenwende vom 19. zum 20. Jahrhundert den Alltag sedierte liest sich eindrücklich in dem Jahrhundertroman von Joris-Karl Huysmans, der das Pariser Wohlleben ausleuchtet. Der Schriftsteller lebte von 1848-1907. Sein Hauptwerk „A rebours“, (gegen den Strich) schildert das verwöhnte alte Europa. Die Hauptfigur, der Adelige Jean Floressas des Esseintes, gibt sich im Halbdunkel zugezogener Brokatvorhänge ganz seinem Ekel vor der ordinären Zeit hin. Das Buch, mit feiner Detailfülle eine scharfzüngige Gesellschaftskritik am Adel und am Großbürgertum ist ein Spiegel dieser Dekade. Es führt durch sensible Stimmungen, Gerüche und Stimmungen der Zeit.
Wenn man in seinem Leben hundert Bücher gelesen haben muss, dann dieses.