Vincents Tagebuch

Was ist Literatur

von | 21. Oktober 2024 | Tagebuch

Beispielsweise diese Zeilen vom ungekanntesten Weltklasseschrifteller Walle Sayer. Bitteschön!

Privatreligion
Zurückfinden, nach dorthin, wo wir noch nie waren, wo es uns noch nicht gab, wo wir sein werden. Verkündet er, ohne daß eine Kanzelstufe in seiner Stimme knarrt, und fädelt mir ein Seil durchs Nadelöhr. Im Auf und Ab, im Hin und Her habe jegliche Richtung sich verloren. Darum das Stillsitzen als Suchbewegung. Deshalb die Kathedrale im Inneren des Staubkorns. Und weil doch jede Schnellstraße den Eselspfad eines Palmsonntags kreuzquere. Und in jedem Nachtclub sich zur morgenkrähenden Stunde eine Tempeltänzerin aufgabeln ließ. Schau, erklärt er dann in seiner Homilie, dieser Trinkhalm ist eine Brechstange, die ich dir jetzt als Hochsprunglatte auf den Erdboden lege. Als wäre es dem Zweifel egal, ob es hinaufginge, aufwärtsführte oder empor. Wahrheit versus Veritas, blenden ihn die Sterne wie ein im Armenhaus aufgehängter Kronleuchter. Auch das Aufheben des achtlos Weggeworfenen sei eine Elevation. Auf dem Feldspaziergang deutet er auf die Sonnenblumen, wie sie ihre Köpfe ins Licht drehen, eine Gefolgschaft sind, ein ins Stocken geratener Massenauflauf, ein gelber Schweigemarsch, eine friedliche, nicht zurückgewichene Formation. Und wie sie daraufhin dastehen, als würden sie gleich alle einzeln in dieselbe Weite schauen. Einer hellen Predigt lauschend.

Walle Sayer lebt in Horb am Neckar:
<Das Zusammenfalten der Zeit>, Kröner Edition Klöpfer, 2022