Vincents Tagebuch

Olympioniken

von | 28. August 2024 | Allgemein

Prime Video von Amazon hat nicht nur Filme über Serienkiller, Psycho- oder Fantasyhorror, sondern auch schwer angesagte Kochvideos. Und Tim Raue gib es dazu. Ich werde zu der sechsteiligen Food-Reality-Serie gelockt. Zuerst erfahre ich, dass ohne Coca-Cola kein Leben möglich ist, Knorr Tütenzeugs ist am Start, und, keine Gnade, Müller-Milch ist auch dabei. Da das Fernsehpublikum alles möglichst billig haben will, sei die Gruselwerbung verziehen.

Statements von gutaussehenden Köchen kommen auf mich zu. Es sind alles gestande Männer, und auch zwei tüchtige Schönheiten beleben die Thematik.

Unter den Dunstabzugshauben tönt es abgehackt:
“Herzblut, ganze Energie, Schmerz, Kochen kein Leben, Michelinstern-Ritterschlag, es gibt nichts Größeres als den Stern, gundsätzlich schmeckt Essen scheisse (sic!), Gladiator, am Druck kaputtgehen, Wettbewerb“ u.s.w. In der ganzen Doku-Reihe im wabern von Trockeneisnebel phantasiert es in die Galaxien des gestylten Overkills. Dann entdecke ich zum zweiten mal das Wort “Gast”. Das war’s zu dieser Spezies. Es handelt sich bei allen Pinzettengefechten nicht um Gastlichkeit, um gesättigtes Wohlbefindern der Gäste, oder dass man den Kunden eine Heimat böte, nein: Hier sind Spitzensportlerinnen und Spitzensportler auf der kulinarischen Aschenbahn. Die Egotrips navigieren in kristalliner Eiseskälte dem Michelin-Olymp entgegen. Der bienenfleißige Tim Raue coacht seine Kolleginnen und Kollegen in die “Wolke-Sieben”, in der feine Zungen sich als Kulturmenschen wähnen, je mehr sie sich von der Natur entfernen.

Früher steckte in der Brustasche des Küchenchefs ein Probierlöffel, der ständig in Töpfen und Schüsseln gefüllt wurde; heute ist dort eine Pinzette eingehängt. Es ist das Sportgerät, mit dem in der SPA-Atmosphäre von Küchenlabors, in denen nichts mehr bruzzelt oder dampft, alles schön auf den Teller gezaubert wird.

Leonardo Da Vinci hat seine Mona Lisa nicht an einem Tag gepinselt, und so dauert ein Essen, bis es auf dem Teller vollendet ist, eine ziemliche Weile infolge Herumfummelns in Uhrmacherakribie. Logischerweise ist heißes Essen nicht mehr modern.

Mir ist klar, dass bis hierhin manch einer denkt, ich würde all diese Akrobatik verachten. Ganz und gar nicht. Denn schaut man in die Gesichter der Köchinnen und Köche, so blickt man in intelligente Augen, sieht Menschen, die sich wirklich abrackern. Diese Küche hat meiner Ansicht nach die volle Berechtigung und es gibt bestimmt Kundschaft, die solcherart Eventküche liebt. Damit ist das Stichwort gefallen. Es gibt ein Publikum, das den Wow-Kick braucht. Diese Leute sind meist nicht ganz arm und bezahlen für die Mühe.

Gelobt sei die Vielfalt der Gastronomie. Das alles hat schon mit Gourmandise zu tun, noch mehr aber mit Spitzensport. Wie gesagt, der Gast ist nicht im Focus des Treibens, das Tellerkunstwerk in der zweiten Reihe, und ganz vorne und oben die kochende Lichtgestalt. Das Streben nach Michelinsternen spornt an, da nehme ich mich nicht aus. Doch zum Ende werfe ich die Frage auf, für was gibt ein Sport-Athlet sein Leben hin? Erbringt er irgendeinen humanen Nutzen? Ich beantworte das mit ja, nämlich dass er sein Selbstwertgefühl und seinen Ehrgeiz bedient und vielleicht von einem Fanclub getragen wird. Wenn ich das so pauschal sagen darf. Das Verfallszeit in jeder Art von Spitzensport ist relativ rasant.

Kochen ist für mich ein genießerischer Beruf, der, mit niedriger Drehzahl ausgeübt, lange Freude machen kann.