Briefe an Laura

Palmsonntag, Karwoche

von | Briefe an Laura

Liebe Laura, ich hatte ein denkwürdiges Erlebnis. Lass mich so beginnen: Musik ist eine ganz besondere Nahrung, sie hat etwas mystisches, sie ist nie endgültig, sie entscheidet nichts, sie hat auch keine Absichten um irgendetwas zu beweisen. Sie begeistert mich durch den Fluss der Bewegung, durch Schwebendes und Flüchtiges das ihr wohnt. Musik verzaubert mich und ist mir ein gutes Mittel gegen den unerbittlichen Realismus und auch oft gegen die kühle Vollkommenheit brillanter Literatur. Ganz klar, es gibt originale Notenhandschriften von großen Künstlern, die für viel Geld gehandelt werden. Klingende Musik ist aber kein greifbares Gut, sie ist wunderbar immateriell, wird auch nicht an der Börse gehandelt, oder sonst von irgendwelchen Verrückten in einen Tresor gesperrt, oder als Vermögensanlage missbraucht.

Zum besseren Verständnis. Vor meinem inneren Auge zieht eine Szene vorbei: Ich sitze auf einer Bank. Eine schöne Frau kommt des Weges und grüßt mich. Was heißt schön, das ist naturgemäß eine individuelle Sichtweise und auch mit Vorurteilen behaftet. Auf mich macht die Frau den Eindruck, dass sie im dunkelblauem Kleid und obenherum mit einer grüngelben Wolljacke sich zugeknöpft hat. Meine Freude für diese Farben sind damit erfüllt. Ihre Augen sind fast mandelförmig, das Gesicht mal und die Nase sephardisch langgezogen. Seit den Portraits von Amedeo Mondigliani weiß man, dass Schönheit nicht unbedingt germanisch daherkommen muss. Mit hochgesteckten Haaren, aufrecht und gerader Haltung fragt sie ob sie sich zu mir setzen darf.
Ich bin ganz verdattert und es kriecht mir mal wieder die häufig gestellte Frage in den Kopf, warum in meiner Jugend kein Mädchen mein Dasein bemerkte und nun als alter Kerl, nahezu Totholz, immer wieder Frauen mich ansprechen. Die Lady ist sicherlich nicht von mir euphorisiert, sondern vom sonnenhellen Frühlingshimmel, oder durch sonst eine freudige Lust stimuliert.

Sie setzt sich neben mich und aus irgendeiner Laune, sagt sie: „Erlauben sie mir, dass ich Ihnen etwas zum heutigen Tag schenke. Am nächsten Wochenende ist Palmsonntag und dann beginnt die Karwoche.“ Sie spricht weiter: „Es ist ja Fastenzeit. Diese hat die Kirche erfunden als die Menschen das ganze Jahr darbten und mit der Fastenzeit gab es dann einen von Gott gegebenen Grund dafür. Auf alle Fälle ist es eine Zeit der Nachdenklichkeit und einer gewissen Melancholie.“

Und nun singt sie ganz leise die Melodie aus Franz Schuberts „Winterreise“, das Lied vom Leiermann. Der nachdenkliche Text ist von Wilhelm Müller.

Der Leiermann

Drüben hinterm Dorfe
Steht ein Leiermann,
Und mit starren Fingern
Dreht er was er kann

Barfuß auf dem Eise
Schwankt er hin und her
Und sein kleiner Teller
Bleibt ihm immer leer.

Keiner mag ihn hören,
Keiner sieht ihn an;
Und die Hunde brummen
Um den alten Mann.

Und er läßt es gehen
Alles, wie es will,
Dreht, und seine Leier
Steht ihm nimmer still.

Wunderlicher Alter,
Soll ich mit dir gehn?
Willst zu meinen Liedern
Deine Leier drehn?

Ich fühle mich wie verzaubert, wie im Nebel, spende leisen Beifall an die zarte Stimme. Mein Augen sind geschlossen und ich bin entrückt nicht mehr in dieser Welt. Wie aus einem Traum erwachend schrecke ich auf und schaue um mich. Die Frau ist weg, ich bin allein und inmitten einer sinnlichen Nachverdauung. So ziehe ich mein Iphone aus der Tasche, will mehr erfahren über den Dichter Wilhelm Müller.

Müller, ein Name den man sich merken muss: Bekannt wurde der Dichter, der von 1794 bis 1827 die Welt beglückte, mit dem Lied, „Das Wandern ist des Müller Lust“. Er war durchaus ein Intellektueller und verkehrte auch in diesen Kreisen. Geistig sah er sich mit Lord Byron verwand und war auch vom Freiheitskampf der Griechen gegen die türkischen Unterdrücker beseelt. Er hörte sogar auf den Spitznamen „Griechen-Müller“. Dieser Aufrechte starb sehr früh, bereits mit 32 Jahren, an einem Herzinfarkt.