Als Bub erinnere ich mich noch, dass dieser Tag ein Schreckenstag war. Schon eine Woche vorher ging es mit der Hektik in die Zielgerade. Das Haus musste geschmückt werden, die Haustüre links und rechts jeweils mit einem kleinen Birkenbäumchen gesäumt, alle Fenster mit Blumen, Ranken und gelb weißen Fähnchen veredelt. Mutter hatte die Blütenstände der Akazie hinterm Haus abgeerntet und an die Fenster gebunden. Mutter ließ sich die schlechte Laune und ihren Stressfaktor kaum anmerken. Man bedenke sechs Kinder und der Vater, die “Vorsteherdrüse” zählte gleich dreifach. Doch die Maloche des Aufhübschens musste sein und um den Zusammenbruch meiner Mutter zu vermeiden wurde Tante Agathe in die Zentrifuge der Vorbereitungen integriert.
Es musste sein, denn der Gruppenzwang der Kleinstadt, auch die Konkurrenz durch die Nachbarn, dräute über der ganzen Straße, ja über der ganzen Stadt. Der feierliche Tag kam. Der Umzug führte den Haus vorbei, ich erinnere mich noch an einen Baldachin der von vier Männern getragen wurde. In dessen Schatten hielt ein Diakon die Monstranz dem lieben Gott hochgereckt entgegen. Dahinter wackelte in würdevollem Kriechgang der Dekan Lang des Heilig-Kreuz-Münsters mit irr flackernden Äuglein. Er war mindestens so erschöpft wie meine Mutter und sichtlich dehydriert. Soweit ich mich erinnere schien an Fronleichnam immer die Sonne. Strahlendes Wetter, gnadenlose Hitze, wütend stach die Sonne auf alle Beteiligten sein.
Dekan Lang hätte vielleicht Besseres zu tun gehabt als über den heißen Asphalt zu wanken. Der Beruf des Seelsorgers kennt eigentllich keine Auszeiten, denn er versorgte sozusagen im Nebenberuf die psychologische Betreuung meiner Oma. Sie suchte ihn mindestens zweimal in der Woche auf, um ihm mit ihrer Ehefron in den Ohren zu liegen. Opa schnauzte Oma oft gehörig als Kirchenspringerin an. Irgendwann verriet sie mir, dass sie nur deshalb so oft in die Kirche ging, damit sie Ruhe vor ihrem “Alten” hatte. Als er verstarb, am Grab des Altvorderen murmelte sie, “jetzt habe ich auch noch ein paar schöne Jährchen”. Sie bezog anschließend die Witwenrente eines Oberstudiendirektors von über 4000 Mark im Monat. Das war damals sehr viel Geld und dies floß 40 Jahre lang zu Lasten des Staatshaushalts. Als sie auf neuzig Jahre zulebte scholt mein Vater sie einige male als Volksschädling. Ja, der Ton war hart und im Gegensatz zu heutigem Geheuchel geradezu brutal, im Kern aber wärmte Herzlichkeit und Liebe.
Der Festumzug kam am Haus vorbei und Oma tapste in vorderster Phalanx am Königsturm auf die Waldstetter Brücke zu. Dort, vor dem Sandsteinkreuz breitete sich ein unglaublich schöner Blütenteppich aus.
Ich hing derweil oben am Fenster, und unten auf der von Publikum gesäumte Straße schwankt der Zug auf glühendem Asphalt. Pfarrer Lang dünkte mir bereits ziemlich fix-und-fertig, machte alles andere als einen fitten Eindruck, dies obwohl er im Schatten des brokatseidenen Himmels wandelte. Der reich bestickte Baldachin war sicher Jahrhunderte alt und fungierte, nehme ich mal an, als wandelnde Kirche, als heiliger Ort, der über der Straße schwebte und die Gold- und Silbermonstranz, das Behältnis mit dem Leib Christi behütete. Das Schmuckstück mit einem Durchmesser von einem halben Meter stellt eine strahlende Sonne da und in der Mitte dieses kleinen Universums parkt eine stolze Oblade. Dieses fadeste Gebäck der Welt versinnbildlich nach Weihung den Leib Christi und wurde in Sankt Loretto von den Marchtaler Vinzentinerinnen gebacken. Die Backstube war gegenüber der Klösterle Schule, wo ich einige Jahre vor mich hin träumte. Alles, was in dieser Schule geboten wurde, interessierte mich nicht, aber alles, was außerhalb lag um so mehr. Sankt Loretto ist heute noch eine wichtige Institution, nicht für Backwaren, sondern sie birgt ein Institut für Soziale Berufe, von den Schwestern gemnangt, genauso wie das Marienhospital in Stuttgart.
Die Monstranz aus dem Schwäbisch Gmünder Münsterschatz.