Der Abflug.
Das Unheil begann am Nachmittag des Heiligen Abends, als Oma Theres den Weihnachtsbaum mit einem Erbstück aus der sudetendeutschen Heimat zu krönen gedachte.
Mit zitternder Vorsicht nahm sie Sprosse um Sprosse der Bockleiter, in der einen Hand die funkelnde Glasspitze, die der Urgroßvater noch in der Graf Schaffgot’schen Glashütte im Riesengebirge, geblasen und geformt hatte. Bei der zweiten Stufe der Leiter trat sie auf ihren langen Rock, die Leiter geriet ins Wackeln. Es wird vielleicht an der alpenländischen Weihnachtsmusik gelegen haben, die aus dem Holzradio herüberwehte. Es ging nochmal alles gut und Oma Theres konnte die Balance halten.
Hinauf, hinauf. Die Altbauwohnung mit den bröckelnden Stuckverzierungen am Plafond zog sich in kirchenartige Höhe, die nahezu drei Meter erreichte. Dementsprechend hatte der Sohn von Oma Theres traditionell in eine mächtige Nordmanntanne investiert. Wiederrum wackelte die die Leiter, was Oma Theres keineswegs irritierte. Sie war mit sich im Reinen, hatte sich nachmittags in der Betstunde eine Art von Unverwundbarkeit ins Herz geholt. So erklomm sie die letzte Leiterstufe und verschnaufte erst einmal. Sie betrachtete mit einer gewissen Heimatsehnsucht die Kristallkugel mit der Spitze, die leicht in der Hand lag, vorlaut glitzerte, und sich von der unteren Rundung spitz nach oben zog und fast an eine Hellebardenspitze erinnerte. Ihre Gedanken wanderten weit zurück ins Riesengebirge, ins heutige Tschechien.Der Hausstand, der ganze Besitz war damals von den Tschechen okkupiert worden. Vorher hatten umgekehrt die Nazis alles an sich gerissen. Theres schaute auf die gläserne Tannenpike. Damit, dachte sie, hätte man den Tschech damals erstechen können. Dieser Unhold hatte die ganze Familie mit Fußtritten aus ihrem, großen Haus getrieben, das breit und fett den Marktplatz von Schreiberhau im Riesengebirge zierte. Ihr kam nicht in den Sinn, wie vorher ihre deutschsprechenden Nazis diesen Mann gequält hatten. Erst war ihre Familie obenauf und vom Führer gesegnet, nun waren die Tschechen wieder obenauf.
Nur noch das Nötigste war zusammengerafft worden und auf den Heuwagen gestapelt. Auf ihm befand sich vor allem der Hausrat den der Tschech nicht gebrauchen konnte. Die Fuhre Unrat, mit dem Pferd Wastl davor gespannt, machte sich auf den Weg in den Westen, nach Schwäbisch Gmünd. Ein bisschen Schmuck aber, hatte Oma Theres noch verstecken können, und vor allem die kristallgläserne Tannenspitze.
Oma Theres auf der Leiter – in ihren Gedanken befand sie sich zwar nicht inmitten sedierter Absenz, aber konzentriert den Baum schmücken, davon konnte keine Rede sein. Sie fummelte sich den Glasschmuck auf den senkrecht zur Decke reckenden Tannenast. Sie beugte sich nach vorn, der harte Rücken spannte, die kurzen Arme streckte sie. Theres, ein wahres Knochenbukett, bog ihren knarzenden Rücken weiter der Stuckdecke entgegen. Immer noch musste sie an den verdammten, Rauscherbart denken, der ihnen nachgerufenhatte. “okradli jste nás: Ihr habt uns beraubt! In ihr schrie es nach Revanche. Doch das war dann ihrem Schutzengel doch ein bisschen zu viel.
Die Leiter geriet erneut ins Pendeln. Einen Wimpernschlag weiter gebärdete sich die Bockleiter wie ein lebendiges Wesen, war unentschlossen, verharrte zitternd in labilem Gleichgewicht, als würde die Zeit stehen bleiben. Der spitze Hintern von Oma zuckte konvulsiv und rang um Balance. Von vorne sah Oma aus wie eine vertrocknete Knoblauchzehe und von hinten erinnerte sie nun an ein ausgemergeltes Legehuhn. Die Proportionen stimmen hinten und vorne nicht und so gab die Leiter mit Oma Theres als Waagscheißer obenauf, sich ergebend der Schwerkraft hin. Der Herr hatte kein Einsehen. Oma Theres, die Tschechen-Revanchistin, reif wie Fallobst, zog es nicht gen Himmel, sondern ganz unchristlich der Schwerkraft kapitulierend „down to earth“. Die Reise nahm Fahrt auf in Richtung Fernsehkommode und endete mit einem dumpfen Einschlag.
Oma Theres fand sich in tiefster Nacht, doch dann hörte sie Stimmen und schlug blinzelnd die Augen auf. Aus der flimmernden Unschärfe kräuselten sich immer mehr klare Umrisse. Theres, nun von einer Erscheinung illuminiert, erkannte zwar nicht das Jesuskindlein, sondern den längst verstorbenen Ehegatten, der in krächzendem Fistel sie anröchelte. “Wach auf, was host denn? Stell di net so an!” Daraufhin schloss Theres die Augen. Sie wusste, sie war „hinüber”. Der Abflug hatte die falsche Richtung genommen, denn Opa Gustl schmorte bereits seit 10 Jahren in der Hölle.