4. Oktober 2024, zuerstmal im Schweizer Jura nachdenken.
Liebe Laura,
für zwei Tage bin ich ausgebüxt, und habe zum Nachdenken einen idealen Ort gefunden, das Hotel Erica in Langenbruck am Fuße des Schweizer Juras. An meinen Großvater, den alten Vinz, nachdem ich getauft wurde, muss ich oft denken. Bin ich sinnierend bei ihm, so muss ich mich auch oft schämen, denn er gab sich große Mühe, mich mit Wissen zu versorgen. Ich dank es ihm nicht, sondern lies meiner Faulheit freien Lauf. Er war in Schwäbisch Gmünd im Parlergymnasium in Schwäbisch Gmünd Lehrer für Latein, Griechisch, Deutsch, Geschichte, all die Fächer, die mich heute schwer interessieren. Kürzlich fand ich einen Zettel, den er sich für den Unterricht seiner Schüler notiert hatte.
Was ist Bildung
Achten wir auf die Wortbedeutung, sie weist auf „Bild“. Sich bilden heißt also sich formen, sich gestalten. Man meint womöglich das „Bild“, das sich die Gescheitesten der letzten 3000 Jahre vom richtigen Menschen für sich gezeichnet haben, oder so, wie er sein sollte. Von Platon über Jesus, Kant, Goethe u.s.w..
Die folgenden Dichter haben den Menschen gezeigt, wie er wirklich ist, gezeigt mit all seinen Leidenschaften und Verbrechen, aber auch mit seiner Größe und Güte. Wer aber lesen kann, findet heraus, welchen Menschen er für den richtigen hielt und welchem er folgt, welchen er korrigiert und welchen er meidet.
Wie sieht nun das Bild vom Menschen aus, zu dem wir uns selbst formen möchten? Auf alle Fälle sollten wir unseren Trieben überlegen sein, unsere Leidenschaften in erfolgversprechendem Maß verankern und nicht der Machtgier und der hemmungsloser Freiheiten erliegen. Welch Unglück für sich selbst und andere haben Caligula, Claudius, Nero angerichtet und nichts erreicht, außer dass man sich mit Graus abwendet. Oder man denke an die großen Mörder, die Renaissancefürsten, Tschingis Khan oder Hitler. An wichtigem Fortschritt für die Welt waren sie nicht beteiligt. Alle diese waren nicht wirklich gebildet, denn es fehlte ihnen die Herzensbildung.
Wer also nach Bildung strebt, muss den Menschen in seiner Größe und auch in seinem Abgrund kennen. Darüber bietet die Historie und der Rückblick viel Gelegenheit. Man achte auch auf die kleinen Dinge, die man im Straßenverkehr mit Rücksichtnahme sehr gut anwenden kann, indem man nicht auf seinem Recht beharrt. Und dann gibt es den ganz simplen Vers der, wenn beherzigt, alle Gesetze überflüssig macht: „Was Du nicht willst, das man die tut, das füg’ auch keinem andern zu.“
Der Alte Vinz
14.Oktober 2024, Auf nach Buttenhausen, kleiner Ort ganz groß
Liebe Laura,
nur wer jemals durch Bad Urach spaziert ist, bekommt die Dispens, an dieser schönen Stadt vorbeizufahren. Also dann, hinauf auf die Schwäbische Alb, durchs Seeburger Tal. Auf halbem Weg nach Münsingen mache ich in Seeburg kurz Rast, und fahre an der großen Kreuzung links ab und nach fünfzig Metern wiederum. Eine schmale Zufahrt führt über eine Brücke und ich parke vor der Johanneskirche, die von einem kleinen Friedhof umgeben ist. Der Himmel ist hell und blau und die Stille geradezu meditativ. Auf der östlichen Seite, der Seite des Chors, der den Altar beherbergt, habe ich den Blick frei auf den Schlupffelsen. Er steht unter dem Schutz des Geobiotops und darf nicht betreten werden, also keine Kletterei.
Erstmals ist die Johanneskirche im Jahre 770 n.Chr. erwähnt. Die Ursprünge der heutigen Kirche reichen zurück bis ins Jahr 1300, aus dieser Zeit sind auch die Fresken im Chorraum. Man sieht Christus als Weltenherrscher, und den Symbolen der 4 Evangelisten: Matthäus (Engel), Markus (Löwe), Lukas (Stier), Johannes (Adler). Die Wandmalerei entstand um 1340.
Zurück über die Brücke unterbreche ich meine Albfahrt erneut um meine neugierig Nase in ein denkwürdiges Schlösschen zu stecken. Eine enge Straße, wirklich eng, und ich sorge mich, käme mir ein Auto entgegen müsste ich einen halben Kilometer rückwärts wieder runter, denn ich befinde mich auf verbotenem Weg. Oben angekommen fahre ich weiter zum Hofgut und werde prompt von einer jungen Frau schwer angepflaumt, warum ich das gegenüberliegende Schlösschen fotografiere. Keineswegs bin ich dem Bauwerk zu nahe. Ich fotografiere und lasse mich nicht beirren. Haben nun schon Bauwerke Persönlichkeitsrechte, geht der Datenschutz schon so weit. Also schnell geknipst und nichts wie weg und hinunter ins Tal der Erms.
15. Oktober 2024 Schloss Uhenfels
Liebe Laura,
Schloss Uhenfels hoch oben über dem Seeburger Tal hat eine besondere Geschichte. Es wurde in der romantisierenden Zeit, in der auch Schloss Neuschwanstein errichtet, als Märchenschloss gebaut. 1899 kaufte der Bankier Georg Gabriel Warburg das Ensemble. Er betrieb es als landwirtschaftliches Anwesen. Georg Warburg wurde 1923 dort begraben und es gibt noch einen schönen Gedenkstein. Sein Sohn Siegmund, wurde mit Mutter von den Nazis enteignet. Das Gut ging für 150.000 Reichsmark an die Ortschaft Trailfingen. Sie emigrierten nach London. 1953 bekam die Warburgfamilie das Rittergut zurückerstattet.
Schloss Uhefels
In London gründete der Seeburger Siegmund Warburg 1938 das Bankhaus S.G. Warburg. In den folgenden Jahren wurde er zum bedeutendsten Bankier Englands und infolgedessen geadelt.
Der bedeutende Kunsthistoriker Aby Warburg (1866-1929) ging auch aus dieser Bankiersdynastie hervor. Die Brüder von Aby garantierten ihm die Finanzierung seiner vielen Bücher. Irgendwann waren es über 60.000 und es wurde in Hamburg extra ein großes Gebäude bezogen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten drängten Aby und erst recht seinen tüchtigen Sekretär Fritz Saxl die Bibliothek nach London zu verschiffen. Dort ist sie heute noch und kann jederzeit aufgesucht werden.
28. Oktober 2024
Liebe Laura,
an Münsingen vorbeigeschrammt zieht sich die Straße durch lichten Wald hinab ins Tal der großen Lauter. Buttenhausen ist in Sicht. Einige Häuser grüßen, über styroporgedämmte Architektur müssen wir hier nicht reden. Gleich am Ortseingang zeigt ein Schild, wie man dem Tal wieder entkommen könnte, nach Wasserstetten, Gomadingen und Marbach mit seinem sehenswerten Gestüt.
An dieser Kreuzung hockt das Gasthaus Krone mit falbem Anstrich und vollkommen schmucklos. Zwei üppige Blumenkübel vor dem Eingang signalisieren, dass der Betrieb noch nicht weggestorben ist, wie so viele Wirtschaften in dieser Gegend.
Bevor ich mich mit Herumtapsen meine Kondition dezimiere, fahre ich erst einmal auf der Hauptstraße durch den Ort. Mir scheint, dass ich in diesem Ort nicht in Begeisterung ausbreche. Man sagt ja, der erste Eindruck sein der beste, aber das stimmt nicht, wie wir später sehen werden. In einer Minute bin ich am anderen Ende des Dorfs und drehe um. Einige Wimpernschläge und ich bin wieder am Gasthaus Adler, das im Internet mit dem schönen Foto eines Wurstsalats lockt. Wir haben Sonntagmittag, ich bin hier offensichtlich das einzige Lebewesen in diesem Flecken. Der November kündigt sich an. Die Sonnenstrahlen stechen schräg zwischen den Häusern auf mich zu. An Sonntagen stauen sich hier die Ausflügler, doch die Freizeitler haben sich verloffen, das Tal gehört mir. Die Einheimischen haben sich auch verzupft? Sind sie alle weg, weil es keinen Café, keinen Bäcker, keinen Metzger, und keinen Tante-Emmaladen gibt, keinen Aldi, Lidl, Norma oder Rewe. Diese Supermärkte haben sich im nahen Münsingen verklumpt und die Kleingewerbetreibende hier vertrieben. Sind die Dorfbewohner alle unterwegs, weil hier das Gasthaus zwar die Türe offenhält, aber auf Resopaltischen nur Wurstsalat abfeiert. Es ist viele Jahre her, dass ich mich mit dieser wurstlogischen Frugalität ausgeliefert habe. Eigentlich ist es etwas sehr Gutes, wenn um diese Nationalspeise nicht ein Riesenproblem lauern würde. Deutschland ist das Land der Industriewurst. Handwerkliche Metzgereien sind inzwischen Geheimtipps und ich traue mich eigentlich nicht eine Wirtin, oder einen Wirt zu fragen wo die Wurst herkommt. Wer will schon Prügel beziehen oder sein Erspartes an eine Verleumdungsklage hängen? Was ich ahne muss ich nicht unbedingt bestätigt wissen. Es ist wie mit den Maultaschen, landauf landab. Die letzten drei Vertrauensbrüche mit diesem Zeug gingen auf das Konto eines schlechten Metzgers mit Teigumhüllung in Wellpappenanmutung.
Aber genug der Lästerei. Buttenhausen ist etwas Besonderes und hat bei mir unbegrenzten Kredit, was ich in späteren Briefen erläutern werde. Die Ortschaft krümelt sich der Hauptstraße entlang und nebenan mäandert das glasklare Flüsschen, die Große Lauter. Ein kleines Schild zeigt mir zur Schattenseite des Tals übers Wasser und die Brücke. Hier befand sich das Jüdische Ghetto, die Sonnenseite hielten die Christen besetzt. Etwa vierhundert jüdische Bürger und gleichviel christliche, vertrugen sich gut. Das hatte mit den Nationalsozialisten ein krudes Ende. Übrig geblieben sind der pittoreske Friedhof und die in alle Welt verstreuten jüdischen Nachkommen.
Liebe Laura, Du weißt sicherlich, dass ich gerne Fotografiere und besonders haben es mir die Jüdischen Friedhöfe angetan. Diese karge Würde, die Patina, oft auch Überwucherung, wie sich die Steine gegen den Verfall und gegen das Vergessen wehren? Gibt es eine romantische Seele die davon nicht ergriffen wird? Bei mir stellt sich jedesmal Wehmut ein, da es Millionen von Juden nicht zu einem Grabstein geschafft haben.
Ich durchsuchte im Internet den Begriff Buttenhausen und entdeckte den Namen des Politikers Matthias Erzberger. Er war Abgeordneter der Weimarer Republik, dann den Flugpüionier Gustav Mesmer, der Dank des Bruderhauses die Nazis überlebte. Der Dichter Friedrich August Werthes wäre zu nennen. Gemach, das alles wird noch stattfinden. Was mir aber beim Studium der Ortsgeschichte von Buttenhaus ins Auge stach, das war der Name Lehmann Bernheimer. Viele Juden in Buttenhausen zogen durch die Lande und verkauften Textilien, Haushaltsartikel und allerlei nützliches für Haus und Hof. Den Stoffhändler Lehmann Bernheimer (1841-1918) zog es nach München um sich dem Stoffe- und dann dem Kunsthandel zu widmen. In meinem Hirnkasten rumpelte es. Habe ich nciht irgendwo ein buch über den Kunsthandel Bernheimer. Ich erinnerte mich auch, dass es ein dickes rotes Buch war. Im nu fand ich in den Regalen der Kunstbücher einen Fünfhundertseitenziegel mit dem Namen Bernheimer und dem Übertitel Narwalzahn. Das Buch habe ich vor Jahren richtiggehend schiefgelesen, denn es ist äußerst lebendig geschrieben.
Irgendjemand sagte mir, ein Frevler hätte die Grabsteine mit Farbe besprüht. Das stimmt nicht. Seit Jahren kämpft das Denkmalamt gegen einen schwefelgrünen Pilz.
Die Bernheimers
Liebe Laura,
ich muss Dir von München erzählen, als ich dort im Restaurant Humplmayr am Lenbachplatz kochte. Schräg gegenüber, dort wo der Stachus beginnt, steht es heute noch, das riesige Palais Bernheimer. Man kann das Gebäude ohne zu übertreiben ein Stadtschloss nennen. Das Parterre dehnt sich über die ganze Breite als sehr hohe Schaufensterfront mit verschiedenen Ladenlokalen. Von den Nazis enteignet erhielt Otto Bernheimer 1946 das Gebäude zurück. Meine Zeit im Umfeld des Bernheimerschen Palais war 1972 und 1973. Vier oder fünf Jahre später übernahm der Enkel Konrad Bernheimer die Firma und spezialisierte sich auf Gemälde Alter Meister. “Bernheimer Fine Old Masters” rückte in die Oberliga des Kunsthandels auf. Wie dazu kam beschreibt Konrad Bernheimer in seinem Buch “Narwalzahn und alte Meister”, das bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschienen ist. Sein Metier hatte er bei Sothebys in London gelernt. 1987 verkaufte er das Palais um seine Miterben auszuzahlen und seine Gemäldegalerie auszubauen. Käufer war der architekturbesessene Jürgen Schneider, der viele Prachtbauten sanierte, nur sich selbst nicht. Irgendwann brach seine teure Leidenschaft zusammen und er landete wegen Mauscheleien im Gefängnis. Die Deutsche Bank übernahm und vollendete die Renovierungsarbeiten die sich auf über hundert Millionen aufgetürmt hatte. 2015 verkaufte Konrad Bernheimer an die die jahrhundertealte, weltberühmte Kunsthandlung Colnaghi. Aus dem Tagesgeschäft hat sich Konrad O. Bernheimer zu zurückgezogen, und seitdem zahlreiche Bücher veröffentlicht, “Gebrauchsanweisung fürs Museum” und einiges über Kunst, sowie Kriminalromane, die im Milieu Kunstwelt spielen.
Die Welt der alten Gemälde, der alten Meister übt auf mich eine besondere Faszination aus. Ich habe mir fest vorgenommen, dass ich die nächste Messe in Maastricht, die TEFAF besuchen werde. Ich werde aufgrund meiner schmalen Altersversorgung nichts kaufen können, aber das macht nichts. Eine meiner großen Freude ist das Stehlen mit den Augen.
über Buttenhausen gibt es noch viel mehr zu erzählen, aber davon später.