Meine liebe Laura,
Du weißt ja, mit romanischen Bauwerken und ihrer Mystik habe ich ja schwer was am Hut. Kürzlich besuchte ich das Kloster Maulbronn zum wiederholten Male. Unglücklicherweise hat der Buchladen am Tor zum Klosterhof geschlossen. Wenn ich ein bisschen übertreiben darf, der Buchhändler Krüger ist mir genauso wichtig wie das Bauwerk. Diesmal war der Grund meines Besuchs aber einer neuen Erkenntnis geschuldet, dass nämlich mein ehemaliger Nachbar in Schwäbisch Gmünd, sein Name ist Jerg Ratgeb in diesem Kloster eine frühe Arbeit hinterlassen hat, das war 1517. Ich spreche von Nachbar, das hat etwas von kindlicher Einfalt und ich muss sagen, im Alter kehre ich, wenigstens gedanklich, wieder zurück in meine Heimatstadt. Ab einem gewissen Alter wird man wieder zum Kind, dorthin, wo man herkommt.
Diesen Sonntag aber führte mich meine Leidenschaft für romanische Bauwerke in die entgegengesetzte Richtung, nämlich nach Mössingen. Eine bemerkenswerten Stadt, bekannt beispielsweise durch die Mössinger Blumenwiese, durch Schwefelquellen und durch den lebensgefährlichen Aufstand zu Zeiten Hitlers, als die Belegschaft der Textilfirma Pausa todesmutig auf die Barrikaden ging. Nicht zu vergessen der Maler Andreas Felger, dessen abstrakt-expressionistische Form und Farbe mich begeistern. Nun ja, über Mössingen wäre noch einiges zu nennen. Mir ging es aber heute um etwas anderes.
Von Mössingen aus ein wenig höher in den Bergen, lehnt sich das Örtchen Belsen gegen den Trauf der Schwäbischen Alb und darf nicht mit Bergen-Belsen verwechselt werden. Dieses Belsen ist nämlich inmitten seiner Streuobstwiesen eine Stätte des Humanismus, allein schon deswegen, dass vor 150 Jahren hier noch 300 Schnaps-Brennereien angesiedelt waren. Vom Ortskern in Mössingen schlängelt sich eine schmale Straße durch die chlorophyllschwangere Flora, ein Baumstückle am anderen, ein Triumpf der Realteilung.
Dann ein Schild, links ab zum Friedhof, und genau dort will ich hin. In Erwartung auf Frieden und Einsamkeit. Wenn man diese sucht, sind romanische Kirchen immer die erste Adresse. Bevor ich die romanische Friedhofskirche, also die Belsener Kapelle sehen kann, reihen sie bedrohlich viele parkende Autos am Wegesrand. Der Turm der Kapelle kommt in Sicht. Es ist eine sogenannte Chorturmkirche. Der Kirchturm ist folglich nicht seitlich an die Kirche gelehnt, sondern hockt wie eine Glucke über dem Chor, einem nach Osten zur aufgehenden Sonne hin vorgebautem Halbrund mit hohen gotischen Fenstern. Sie sind zweigeteilt mit schlicht-schönem Maßwerk. Letzters sind die Steinmetzornamente in den spitz zulaufenden Fenstern.
Vom Auto aus schaue ich eine kleine Allee hoch, die an der Westfassade der Kirche endet und oben vor dem Kirchenportal scheint mir ein Fest zu lärmen. Mindestens 100 Leute treten sich dort auf die Füße. Als ich, raus aus dem Auto, an der Friedhofsmauer entlang schnüre komme ich an einem messing-blankpolierten Tenorhorn vorbei. Musik ist also auch geboten. Ein Wimpernschlag später umgibt mich festlich gekleidetes Publikum in herzensfroher Stimmung. Ich verharre, schaue mir das alles an und überwinde meine Enttäuschung, dass ich hier wohl kaum meine Recherche und Fotografiererei vorantreiben kann. Ein Mann kommt auf mich zu, er hat mich wohl erkannt. Und ich erkläre ihm, zu welchem Behufe ich diese Kirche aufsuchen. Er entschuldigt sich quasi, dass heute hier eine Konformation stattfände. “Das dürfte wohl wichtiger sein als meine Forschung”, sage ich ihm und genieße den Blick auf exquisit gekleidete Damen und auch Herren, davon einige mit festlicher Fliege. Der Anblick belohnt mich und auch der Frohsinn sickert in mich. Das ganze Szenario erinnert mich etwas an impressionistische Freiluftmalerei angefangen bei Edouard Manets “Frühstück im Freien” bis zum lichtflirrenden Camille Pissarro und die sonnengesprenkelten Lauben des Impressionisten Max Liebermann.
Der Herr, der mich so freundlich angesprochen hat, führt mich in die Kirche, er kennt sich gut aus. Er zeigt mir das Sonnenloch, wegen dem ich letztlich hierher gekommen bin. Das werde ich wohl erst genauer erklären können wenn ich einen zweiten Besuch hinter mir habe. Die Kirche ist bevölkert wie ein Weihnachtsmarkt, alles läuft ducheinander und trotzdem habe ich nicht das Gefühl, dass der spirituelle Raum strapaziert wird. Warum muss in Kirchen immer lähmender Ernst auf die Stimmung drücken?
Wir treten ins Freie, in den Schatten der Westfassade. Von ihr bin ich regelrecht ergriffen, sie strahlt die Energie eines Kraftortes. Über dem romanischen Rundbogen sind geheimnisvolle Figuren eingemeiselt. An den flankierenden Halbsäulen neben dem Portal sind konzentrische Strahlenkreise eingehämmert, Sonnenmotive die sich auf das Sonnenloch beziehen.
Dieses Loch lässt allerdings keine Sonne mehr durch, da man irgendwann eine Sakristei an die Kirche anfügte und damit das Loch verdeckte. Urspünglich schien genau am 21. Juni zur Tag-Nachtgleiche, die Sonne genau durch das Loch. Insofern hat es einen astronomischen Hintergrund, und das vor 500 Jahren. Die Legende berichtet auch, dass der in die Kirche gelangte Sonnenfleck immer ein Kreuz an die gegenüberliegenden Quadersteine zeichnete. Damit muss ich mich noch genauer beschäftigen. Kurzum, ich werde wieder kommen.
- Unter dem Sonnenloch geht es in die Sakristei
- Hier das Magische Loch
- Seiteneingang, auch mit Sonnenmotiven.
PS: Das Örtchen Belsen, nie gehört. Nun krachte es mir angenehmst ins Gemüt. Das hat auch mit dem Maler Andreas Felger zu tun, der in Belsen geboren ist und dort noch wohnt und dieses Jahr seinen 90. Geburtstag feiert. Dieser abstrakt-expressive Ausnahmekünstler wird separat von mir geehrt auf
www.vincent-klink.de