Vincents Tagebuch

Gegenmittel zur Gourmetartistik

von | 10. April 2024 | Allgemein

Schon haben wir es hinter uns. Nachrichten über den Guide-Michelin in Dauerschleife. Der deutsche Normalbürger starrte auf diese, relativ fremden, wie unwesentlichen Vorgänge genauso ergriffen wie ich damals auf den Moment der Mondlandung. Unterm Strich haben die gastronomischen Séancen schaumgeborener Zungensensibelchen für die Bevölkerung und auch mich  keine große Bedeutung. Für gastronomische Volksgesundheit muss das normale Gasthaus unterstützt werden. Für meine baldiges Buch über die Schwaben bin ich ständig auf Recherche. Es gibt mehr gute Gasthäuser als man gaubt, man muss sie nur finden. Dies auch ohne Rankings. Ich frage mich ob wirklich beseelte Genussfreude sich mit Rankings überhaupt verträgt. Die Kundschaft in dieser Arena dürfte zu meinem Lustempfinden kaum passen. Trotzdem, alle sollen ihr Geld verdienen und sich Lorbeeren holen, soviel Sie können. Meine Welt ist aber nach der Devise gestrickt: “Keep it Simple”. Überall wird sanktioniert, der Staat will zwanghaft uns Bürger bis ins Kleinste pampern. Das ist ehrenwert, führt aber zur Unselbständigkeit des Einzelnen, wenn nicht gar zur Verblödung. Ich bin für mehr Eigenverantwortung. Ich habe, glaube ich, den Satz von Kurt Tucholsky schon einmal erwähnt: “Der Deutsche fällt hin, er steht nicht auf, sondern guckt sich um, wer schadenersatzpflichtig sein könnte!” So sinngemäß der genaile Tucho.

Kommen wir zum Ehrgeiz der Spitzengastronomie, die olympische Höhen anstrebt. Alles okay, jeder soll nach seiner Fasson verrückt sein dürfen. Ich halte mich von Übertriebenem fern, denn die Auswüchse und Überfeinerung, generell des obszönen Spätkapitalismus ist gegen jede Vernunft.

Vor zwanzig Jahren las ich den Roman von Joris-Karl Huysmans, „Gegen den Strich“, 1884 geschrieben, eine Ikone der Décadence, mit erstaunlichen Parallelen zu heute. Boris Vian schrieb 1946 „Der Schaum der Tage“, und so weiß ich zu unterscheiden, zumindest gastronomisch, was heutzutage Schaum ist, und was Vernunft. Als Gegenmittel zur Gourmetartistik empfahl damals Filippo Tommaso Marinetti in seinem futuristischen Manifest 1909 ein Gericht aus Reißnägeln.

Ansonsten fühle mich sauwohl, schaue mir alles aus der Ferne an. Ich weiß aber auch, dass junge Leute sich anders verhalten müssen als ich alter Knochen. Ich war auch mal jung und ahnungslos, als ich glaubte einen tiefergelegten Mercedes fahren zu müssen. Ohne Fehler, kein Leben, entscheidend ist, dass man an diesen nicht festklebt und sie womöglich wiederholt. Und ganz wichtig, dass man Menschen die Fehler gemacht haben, diesen auch verzeiht und nicht nachtragend ist. Wer das nämlich tut ist komplett fehlerhaft.

Soviel aus den frühen Morgenstunden des 10. April, immer Ihr Old Vincent