Vincents Tagebuch

Wehmut

von | 10. Juni 2023 | Allgemein

Es war ein Kampf. Wir hatten unsere Qualitätsvorstellungen an Frankreich justiert.  In Deutschland musste alles groß und ertragreich produziert werden. Riesige grüne Bohnen mit dementsprechenden Fäden oder Holzigkeit, der Fisch von der Nordsee roch sehr stark nach Fisch und nicht nach frisch. Einen erheblichen Anteil der Lebensmittel mussten wir über einen Frankreichimporteur kaufen, da es in Deutschland wirkliche Lebensmittelqualität, kaum zu kaufen gab. Eines Tages hatten wir erstmals Artischocken mir Hollandise auf der Karte. Ein beherzter Teutone stopfte sich das halbe Teil ins Maul und kaute wie eine Kuh. Auch mit den Gästen hatte man seine liebe Not.
Nach Feierabend saßen meine Elisabeth und ich oft noch bei einem Glas Wein und heulten uns gegenseitig aus. Dss war 1974/75. Schreckliche Zeiten. Ich verfluchte meinen Beruf über längere Zeit. Heute empfinde ich zu meiner verstorbenen Frau eine sehr große Dankbarkeit. Sie war tapferer als ich, sie gab nicht auf, und hinderte mich an der Kapitulation. Jede Woche rief der Sparkassenmann an und fragte wo die Umsätze blieben. Trotz täglicher 18-Stunden-Schufterei erzielten wir in Schwäbisch Gmünd siebzehn Jahre lang keinen Gewinn. Blieb ein bisschen etwas übrig so mussten wir das Ererbte, ein riesiges Jugendstilhaus, reparieren. Es blieb trotzdem eine marode Bude, war ein Faß ohne Boden.Wir musste aus Schwäbisch Gmünd weg, obwohl es dort gut situiertes, kennerisches Publikum gab. Es waren aber zu wenig.

Gestern entdeckte ich in eine Kiste das Silvestermenü von 1987. Da hatten wir bereits 13 Jahre Erfahrung mit unserem “Postillion” in Schwäbisch Gmünd.
Die Karte liest sich als wäre sie von heute. Wirklich gute Küche ist kaum Moden unterworfen, sonder nur moderner Ernährungserkenntnisse und fortschrittlichen Arbeitsmethoden, Nachhaltigkeit und Tierwohl.

Anmerkung: Ringsum in in allen Medien, andauerndes Gemecker, Gejammer, und die berühmte “German Ängst”. Von der Politik erreicht uns viel guter Wille, viel Hirngespinst, viel Gerede über segensreiche Vorhaben, aber nur deprimierend lahm-zähe Ausführung. Manchmal frage ich mich, nirgends ein beherztes Zupacken, oder verblöden wir rasant?

Wahrlich sage Euch, wir leben in der besten Zeit, die uns Land jemals hatte. Statt Meckern wäre Dankbarkeit angesagt, aber auch Aufmerksamkeit, dass es so bleibt.