von Fanny Müller
Im November ging das Schlachten in meinem Heimatdorf los, und wir Kinder zogen von einem Bauernhaus zum nächsten, um uns dort ungerührt die quiekenden Schweine anzuhören, was uns deshalb nicht weiter störte, weil man als Landkind Tieren gegenüber eine eher pragmatische Einstellung hat. Schweine, Rinder und Schafe waren zum Wurstmachen da, und auch unseren Stallhasen gegenüber waren wir nicht zimperlich: als Sonntagsbraten waren sie herzlich willkommen. Außerdem waren es dieselben Schweine, die wir im Sommer mit Luftgewehren beschossen hatten; eigentlich sollten wir die Ratten treffen, die damals immer noch in den Schweineställen hausten und sich sauwohl fühlten, aber die waren zu schnell … Meistens trafen wir doch eine Sau, und so waren wir das Quieken schon gewohnt.
Dann ein dumpfer Schuss. Und kurz danach hing das Schwein schon an der Scheunewand, nachdem es ausgeblutet war. Für die Blutwurst rührten die Männer stundenlang das Blut, damit es nicht gerinnen konnte. Wir standen dann in einer Reihe, denn wenn der Schlachter, der nacheinander von den großen Bauernhöfen bestellt wurde, in großen Kesseln die Innereien kochte, kriegten alle einen dampfenden Lappen in die Hand geklatscht: gekochte Leber!
Wird mir heute noch schlecht, wenn ich daran denke.Wir zogen uns dann auf den Heuboden zurück, was streng verboten war, und mampften das Zeug weg. Etwas später gab es dann die Leberwurst, von denen alle Nachbarn was abkriegten; grobe, feine und fast rohe, die gebraten mit Sauerkraut auf den Tisch gebracht wurde. Dazu gab es noch Grützwurst; zuerst musste die Grütze eingeweicht werden, während der Schlachter die Därme reinigte, und später wurden die Würste ganz kurz geräuchert, bis sie verspeist werden konnten. Blutwurst war außer Leberwurst und Grützwurst die Dritte im Bunde. Wegen der kleinen Speckstücke nannten wir sie „schlimme Augenwurst“.
Wir lungerten dann immer noch ein bisschen herum, weil es dann und wann noch einen Happen gab: Die Frauen schnitten das Fleisch in kleine Stücke für die Sülze, und ab und zu reichten sie ein paar Stücke nach hinten „för dat lütte Kroppzeuch“, ohne sich umzudrehen. Sie wussten, dass immer mindestens ein Kind hinter ihnen stand. In der Waschküche banden sie dann die Würste ab und ließen sie vorsichtig im Waschkessel sieden, damit keine platzen konnte. Sollte das doch mal der Fall sein, so standen wir jedenfalls Gewehr bei Fuß daneben und fraßen, was uns zugeworfen wurde. Das darf man einem Vegetarier heute gar nicht erzählen, da kriegen die ja gleich einen Ausschlag.
Auch die Mettwurst war nicht ohne, aber die gab es erst ein paar Wochen später, wenn sie geräuchert war, allerdings musste sie ein paar Tage „aushängen“ und kam erst dann in die Räucherkammer. Mettwurst musste erst sehr lange geknetet werden, was wiederum Aufgabe der Frauen war. Vorher wurde sie noch gesalzen, gepfeffert, mit Senfkörnern versehen und mit ein paar Gläsern Rum getränkt, den der Schlachter mitgebracht hatte. Gegen Abend wurden die Bauern immer sehr fröhlich …
Meine Mutter war auf die Mettwürste besonders scharf, aber für die Bauern gehörte sie zum täglich Brot, und bei Hochzeiten, Kindstaufen, Beerdigungen und ähnlichen ausgelassenen Festivitäten wurde „Aufschnitt“ vom Schlachter aus der Stadt geholt, weil der Bauer sich nicht lumpen lassen wollte. Der schmeckte zwar nicht entfernt so gut, war aber „feiner“.
Als ich einem Freund schrieb, dass ich gerade beim Verfassen eines Artikels zum Thema „Wurst“ sei, schrieb er gleich zurück, dass im „spontan“ eine Zeitungsmeldung eingefallen sei, nämlich aus der Deutschen Zeitung vom 18.11.1918 (wieso ihm das spontan einfiel, weiß ich auch nicht, denn er wurde erst etwa 50 Jahre später geboren): „Zwischenfall im [Berliner] Dom. Als gestern Oberhofprediger D.V. Dryander im Dom den Gottesdienst abhielt, unterbrach ihn ein besser gekleideter Herr mittlerer Jahre und hielt von der Empore herab eine Ansprache, die mit den Worten schloss ‚Jesus Christus ist uns Wurst‘. Pfuirufe ertönten, viele Frauen brachen in Tränen aus, der Geistliche barg das Gesicht in Händen. Die Gemeinde stimmte aber sofort in den Choral ein ‚Eine feste Burg ist unser Gott!’“
Der besser gekleidete Herr mittleren Alters war (nicht d e r !), ein Oberdadaist, der später von Berlin nach Hamburg floh und von dort 1943 wg. Bombardierung in die niederbayerische Kleinstadt Landau an der Isar umquartiert wurde, wo er den Rest seines Lebens zubracht.
Fragt sich nur: Eine welche Wurst ist unser Gott? Mettwurst? Leberwurst? Blutwurst? Gammelfleisch? Und wo ist der Choral, der diese blasphemische Betrachtung niedersingt? Ist doch logisch – „überall ist Gott zugegen“ (Koran): „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die Wurstfabrik, de-hen lässt er in die Wurst rein-bei-ßen und wünscht ihm guten Ap-pe-tit.“
Ein leicht verfälschtes Lied von Eichendorff, das wir Nachkriegskinder mit Inbrunst schmetterten. Von der weiten Welt hatten wir keine Ahnung, aber in unseren Träumen waren wir in einem Himmel, der voller Würste hing.
——Fanny Müller—–
Fanny Müller (eigentlich Ingeborg Glock; * 17. Juli 1941 in Helmste; † 17. Mai 2016) wohnte im Hamburger Schanzenviertel. Bevor sie als Autorin bekannt wurde arbeitete sie unter ihrem bürgerlichen Namen als Lehrerin. Zwischen 1986 und 1987 vertrat sie als Abgeordnete die Grün-Alternativen-Liste in der Hamburger Bürgerschaft. Weiterhin betätigte sie sich in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, dem Verein Graue Panther e.V. in Hamburg, sympathisierte mit der Bunten Liste und zählte zu den Gründungsmitgliedern der Alternativen Liste. Unter dem Pseudonym Fanny Müller schrieb sie ihre Geschichten von Frau K., die zuerst im Satiremagazin Kowalski und in der Hamburger Ausgabe der taz erschienen. Es folgten Veröffentlichungen in weiteren Zeitungen und Zeitschriften sowie Bücher. 2005 wurden ihre „witzig-bösartigen Glossen“ mit dem Ben-Witter-Preis ausgezeichnet. In der Laudatio hieß es: „Frau Müllers Geschichten aus dem Schanzenviertel stehen mustergültig in der Tradition des ambulierenden Ben Witter. Der strich im Regenmantel durch die Kneipen und hörte den Leuten zu. Sie mögen ihm fremd gewesen sein, aber er ließ sie reden und er schrieb mit, was und wie sie redeten.“
Titel: Häuptling Eigener Herd, Heft 26
Herausgeber: Wiglaf Droste und Vincent Klink
Verlag: © 2006 Edition Vincent Klink
Website: https://vincent-klink.de/