Vincents Tagebuch

Notbremse, Hamstern, Lesezeit

von | 26. April 2021 | Allgemein

Notbremse: Lesen gegen die Langeweile.

Der Krautsbraten, eine wahrlich schwäbische Speise

Meine Eltern litten unter der Zwangsneurose, den Krieg zwar überlebt zu haben, aber eventuell doch noch zu verhungern. Ich selbst wurde als Kind regelrecht zwangsernährt: „Iss, damit was wirsch!“ hieß die Parole, und dazu wurden noch Nährbier und Lebertran gereicht.

Die Wünsche der Eltern habe ich dann über die Jahre mehr als erfüllt und dabei gelernt, dass Essen die schönste Sache der Welt sein kann. Meine Mutter aber sah das anders: Dauerkochen, von morgens bis abends in Gläser eindünsten, Säfte herstellen, Schweine schlachten, Wurstdosen füllen, Schmalz auskochen, zu all dem noch sechs Kinder aufziehen – das ging an die Substanz. Als die jüngste Tochter endlich das achtzehnte Jahr erreicht hatte, hatte Mutter genug. Sie ertrotzte sich einen verdienten Müttergenesungsurlaub in Spanien – und kam nie mehr zurück. Die exzessive Kocherei hatte ihr den letzten Nerv geraubt; am Familienleben konnte sie nichts mehr schön finden.

Sie hatte ihre Pflicht erfüllt, bis alle Kindlein flügge waren, und den Göttergatten dann allein in der Küche zurückgelassen. Dieser entwickelte sich vom Gourmet zum Frustkoch und Dauermampfer. Was sollte er auch sonst im Ruhestand tun, wenn kein Weib mehr da, die Bettstatt freudlos, die Bude leer und die Kinder nahezu erwachsen waren? Appetit und Durst, die beiden Regungen empfand er als das Zuverlässigste in seiner Restwelt. Also kochen, das aber nach wie vor strategisch. Er brutzelte, sott und schmorte, schwang die Pfannen und schleppte riesige Töpfe, pflegte weiterhin „Grande Cuisine“ in großen Gebinden, als wäre der Clan noch vollzählig. Der Mann kaufte sich seinen ersten Tiefkühler, und so konnte guten Gewissens weitergeköchelt werden. Was nicht in den riesigen Bauch des Expatriarchen reinging, wurde eingefroren, später aufgetaut und als Novität gepriesen. Oft lud er meine Frau und mich ein, und es gab bei Tisch auch immer allerhand Kurzweil. Der Alte erzählte spannend und eloquent und unterlegte die sonntäglichen Mittagessen mit seiner ungebrochen fröhlichen Lebensart. Alle Anwesenden, häufig auch mein sehr magerer Bruder Werner (huhnartiger Körperbau, Württembergischer Meister im Zehntausendmeterlauf), schaufelten das Essen rein, dass die Schwarte krachte. So ging mancher Sonntagmittag ins Land, und was übrigblieb, brachte bald den Tiefkühler zum Platzen. Die Verfallsdaten von dessen Inhalt hätten gut für die Doktorarbeit eines Historikers herhalten können.

Die Zeichen standen jedoch auf Expansion. Ein weiterer Tiefkühler musste her, denn der Nachschub quoll ohne Unterlass. Halbe Schweine wurden gebunkert, der Alte erschoss auf seiner Jagd im Stadtwald Taubental immer wieder mal ums Haar ein Liebespaar, verfehlte aber kaum ein Reh oder eine Wildsau. Solche Edelteile gelangten freilich selten auf den Tisch, sondern wurden für besondere Anlässe aufgespart; diese wiederum waren rar gesät.

Damals betrieben meine Frau und ich bereits das Restaurant „Postillion„ in Schwäbisch Gmünd, meiner Heimat. Vater tönte: Ich kann nicht zu euch in die Wirtschaft kommen, ich muss daheim „wegmachen“. Ich hab‘ einfach zu viel Ware!“, jammerte der Alte, der zusehends vereinsamte. Mit der Vielfalt der Rezepte verhielt es sich ähnlich, sein Kochen lief auf eine Art kulinarischen Monotheismus hinaus. Ein-, zweimal hatte meine Frau Elisabeth ein Auge zugedrückt und Anerkennung geheuchelt, wenn der berühmte „Krautsbraten“ im Ofen schmurgelte. Irgendwann aber gab es nur noch Krautsbraten, denn dieses Küchenwunder erfüllte alle Recyclingvisionen des Vaters. Das Rezept ist schnell erzählt: Irgendwelches Gefrierbrandfleisch wird durch den Wolf gedreht, ähnlich einer Frikadellenmasse vermengt und kräftig gewürzt, was bei Papa totale Überwürzung bedeutete. Oft musste nämlich der antik-ranzige Geschmack des Gammelfleisches olfaktorisch übertönt werden. Mit Inbrunst werkelte Vater an seiner kulinarischen Resterampe. Der Krautsbraten war für ihn der Inbegriff gottgefälliger Verwertung: „Krautsbraten ist die Wiederauferstehung des Fleisches!“, sagte er denn auch. In eine gebutterte Form wurden aufgetaute Sauerkrautreste und die Hackmasse eingeschichtet und dann in den Ofen geschoben. Aufs gute Durchgaren achtete er streng. „Eine Stunde bei zweihundert Grad ist das Mindeste!“ Als junger Koch hing ich an seinen Lippen, denn er war gelernter Bakteriologe und Tierarzt und und als Veterinärdirektor die oberste Hygiene-Instanz der feien Reichstadt. Er dehnte seine Erkenntnisse feurig auf die Kochkunst aus, deklamierte ständig und war einer der Ersten in meinem Berufsleben, die sich wissenschaftlich mit biochemischen Vorgängen des Kochens beschäftigten, also lange vor Vilgis, Hervé und sonstigen Kapazitäten der ….

. Der Mann kannte sich aus, was das Überleben aller Beteiligten garantierte. Er gab zu, dass er in seinem hohen Alter etwas von seinem feinen Geschmacksinn eingebüßt habe. Andererseits war er üblen Gerüchen und Substanzen gegenüber lebenslang nie schreckhaft gewesen: Im Rahmen seiner Doktorarbeit aß er vor einem großen Auditorium intensiv kauend und einspeichelnd die herausoperierte Riesen-Eiterbeule des Gemeindeebers von Straßdorf, um nachzuweisen, wie gewaltig die Zerstörungskraft von Magensäften sei.

Doch zurück zum „Krautsbraten“: Nach einer Stunde trug Papa sein Spitzenerzeugnis zu Tisch. Müffelte das Konstrukt noch etwas ältlich, streute der Küchenheld so viel groben Pfeffer drauf, dass bei den Essenden der Nasentod eintrat und ihnen fast die Zunge abfiel.

Irgendwann hatte meine Frau Elisabeth aber die Schnauze voll. Sie hatte schließlich in eine großbürgerliche Gourmetfamilie eingeheiratet und nicht in ein Abfall-Entsorgungsunternehmen. Dass ihr der schöne Hals platzte, kam so. „Kommet doch am Sonntagmittag, es ist erster Advent, und ich koche euch Fasanen.“ Die Einladung wurde vom Vater nahezu im Diskant und wie ein Rezitativ vorgetragen. Wenn er eine Hinterhältigkeit als Humanität zu verkaufen trachtete, verfiel er immer in eine Art klerikalen Lockton.

Das Mittagessen begann jedoch formidabel mit einer Super-Flädlessuppe, und die Fasanen brutzelten schon im Ofen. Papa bat mich, ihm die Küche etwas aufzuräumen. Ich wischte den Tisch und beförderte welke Salatblättchen in den Abfallkübel. Darin lagen zwei Plastiktüten, die meine Neugier weckten. Auf ihren Papierschildchen stand in Blockschrift: „Fasan, Ortenau, 1974.“ Mittlerweile befanden wir uns allerdings im Jahr des Herrn 1998. Am Tisch würgte ich dann mit winzigen Bissen an etwas Holzartigem herum, und Elisabeth mit ihrer feinen Nase sagte klipp und klar: „Pfui Teufel! Die Fasanen hat noch der Hauptmann von Kafarnaum geschossen!“ Nie wieder setzte sie sich den Kochkünsten meines alten Herrn aus. Dass von dem Essen ziemlich viel übrigblieb, war für den Küchenvorsteher kein Problem: „Der Elektro-Feigl hat so viele Kühltruhen, dass er sie sogar billiger verkaufen muss!“

Als wir den Ort der Fasanenschändung verließen, wurde uns erstmals richtig bewusst, was den typischen Geruch der alten Villa ausmachte: Hier roch es wie in der Grabkammer einer Pharaonenpyramide. Das war wohl die hochbakterielle Abluft der Kühlaggregate, die mittlerweile zu einer Armada von vier Riesentruhen angewachsen waren.

Irgendwann wurde es aber auch den Tiefkühlern zu viel. Als hätten sie nach dem Motto „Kühlis aller Welt, vereinigt euch!“ die Revolution ausgerufen, traten die Geräte in den Streik. Still und tapfer knipsten sie sich aus. Kurzschluss, Stromausfall. Papa befand sich damals gerade auf einer Südtirolreise. In diesem Land sprach man vornehmlich deutsch und servierte, für den Alten unwiderstehlich, noch K&K-Portionen und Klodeckelschnitzel „alla teutonica“. Als Papa nach vierzehn Tagen seine Kühlerleichen besichtigte, hatten die ausgetretenen Körpersäfte seiner Blechkameraden den Fußboden in ein Bakterienschlachtfeld verwandelt. Der flüssige Mageninhalt der Kühlboliden auf dem Kellerboden erinnerte an einen Teppich von Hühnerkot. Die Natur hatte zurückgeschlagen.

Vater erreichte ein hohes Alter, startete noch einmal voll durch und lebte eine typisch schwäbische Schizophrenie: Er engagierte eine Zugehfrau, welche die Kühltruhen bewachte, und kam zur Erkenntniss, dass die Nachkommen womöglich am Erbe größenwahnsinnig werden konnten. Er kaufte sich einen Mercedes 500, legte sich eine Freundin zu, machte Urlaub im Reids-Hotel auf Madeira und für standesgemäße Unterbringung seiner Leica musste Elisabeth ihm eine Prada-Tasche kaufen.

Diese war ihm irgendwann zu weibisch und er vermachte das schöne Stück meiner Frau. Die war sehr angetan, aber als sie ihre Nase ins Innere der Tasche steckte, was meint ihr, was sie roch? „Krautsbraten“. Eine lange Periode der Entkeimung begann. Kölnisch Wasser, Chanel Nr. 5, Aceton, Odol-Mundwasser u.s.w.. Nichts half, die Tasche wurde kein Lieblingsstück meiner Frau.

Vieles änderte sich. Letztlich ist der Schwabe längst nicht so geizig, wie immer kolportiert wird. Aber die Nahrungsgewohnheiten verfolgen offensichtlich den Menschen von der Wiege bis zur Bahre. Außer Haus lebte mein Schwabenpapa sehr großzügig, aber zu Hause folgte er dem Diktat, dass Essen zu wertvoll sei, um weggeworfen zu werden. Der gourmetmäßige Johannistrieb des Seniors erblühte noch um einige Jahre. Die Zukunft strahlte immer noch als Morgenröte. Aber dann: Die Freundin plumpste nach einem üppigen Mittagsmal in den Ohrensessel um ihr letztes Verdauungsnickerchen und wachte nicht mehr auf. Als dann Manitou den Großkoch wenig später zu sich in die Kombüse holte, fanden wir Kinder nach der Beerdigung in seinem Hause wiederum vier gefüllte Kühltruhen vor. Wir empfanden diese Boliden als eine der ersten Biotonnen weltweit, na ja, das konnte man auch einen Achtungserfolg nennen.