Vincents Tagebuch

Cucina Povera, Armenküche

von | 7. März 2021 | Tagebuch

Cucina Povera
Es ist schon ein paar Jahre her, da fand ich im Mülleimer unserer Küche eine Melone, die zwar mit unansehnlichen Druckstellen übersät war, trotzdem aber auf herrliches Innenleben schließen ließ. Ich machte ein großes Geschrei. Dabei ging es nicht um den relativ geringen Preis des Artefakts, sondern um den Respekt vor dem Lebensmittel schlechthin. Ja, es gibt noch Köche wie ich, die sich an arme Zeiten erinnern.

Geiz, Nachlässigkeit, Kostverachtung und Schnäppchenjagd haben aber mit der Armenküche gar nichts zu tun. Lassen wir das für uns Zentraleuropäer schwer vors innere Auge zu zitierende Elend der Dritten Welt mal außer Acht. Die Küche der afrikanischen Armut sollte man besser Überlebensküche nennen. Armenküche unserer Breitengrade ist etwas ganz anderes, hat auch gar nichts mit der Notgroschenkocherei der Aldiopfer zu schaffen. Da spricht man besser von Idiotenküche. Dem zum Sparen gezwungenen Sozialhilfeempfänger, der eine hoffnungslos überteuerte Hühnersuppe ins kochende Wasser rieselt (vier Gramm Trockenhuhn für 98 Cent), ist therapeutisch nicht mehr zu helfen, da bleibt nur noch die Anhebung der Stütze.

Wirkliche Armenküche hat große Tradition und Würde, und je geringwertiger die Zutaten, umso schwieriger und kreativer das Gericht. In ganz Europa sind Speisen der Not die Basis der Feinschmeckerküche. Ob Brotsuppe, Maultaschen, Piroggen, Krautwickel, all diese Essen sind fantasievoll. Für solche Glanzleistungen haben die Italiener eine eigene Kategorie, die Cucina Povera. Sie ist eine Disziplin, ohne die es die italienische Küche gar nicht gäbe.

In Neapel sitzen immer wieder Leute an Straßenecken, die geradegebogene Nägel verkaufen, mit Papiertaschentücher oder sonstwas dealen. Es sind Leute ohne großen Wissensstand, aber sie haben eine natürliche Intelligenz. Ihr ganzes Gehirnschmalz verwenden sie auf ein den Umständen entsprechendes, angenehmes Überleben, also ein Dach über dem Kopf und gebetsmühlenhaft thematisiert, das Essen und Trinken.

Die Italiener sind trotz oft widriger Umstände große Spezialisten des Genusses. Sie sind, gerade im Süden, häufig an allem arm, nur nicht an Sinnlichkeit. Sie schwelgen in einem solchen kulinarischen Fachwissen, dass sich in Deutschland jeder zweite Hobbykoch in die Ecke stellen müsste, um sich dort zu schämen. Es gibt in Deutschland viele Menschen, die sich aus Stumpfsinn mit schlechtem Essen abfinden und ohne Not den Löffel an die verbrecherische Nahrungsmittelindustrie abgegeben haben. Das Gegenteil wäre nämlich, dass Not erfinderisch macht. So haben Gerichte aus billigen Zutaten nicht nur in Italien Raffinement. Sie sind mit Sorgfalt und Wissen bereitet und oft Triumphe der Kreativität.

Aber auch so etwas kann passieren: Pasta Fagioli sind nüchtern besehen nichts anderes als ein Mampf aus weißen Bohnen und Nudeln. Herrliches Italien. Dort wird diese Spezialität so lange empathisch auf eine höhere Ebene gesungen, bis man fest daran glaubt, eine wahre Delikatesse auf dem Teller zu haben. Gerichte mit sozialem Prestige schmecken einfach besser, haben sie dies nicht, so macht man sie dazu. Die berühmte römische Küche kennt Gerichte, die den Normaldeutschen in den Hungertod treiben würden. Allenfalls könnte er sich mit der allgegenwärtigen Rigatoni al pepe trösten, also mit kurzen Makkaroni mit grobem schwarzen Pfeffer und etwas Olivenöl. Basta. Pro Person ist man mit etwa fünfzig Cent dabei. Der kleinste gemeinsame Nenner tierischen Eiweißes nennt sich Pajata und ist ein römisches Nationalheiligtum: in Streifen geschnittene Därme, also Schweinewursthaut, die unter Rigatoni gemengt . Dann wären da noch die Tripa Romana, die im Norden Deutschlands allenfalls als Hundefutter durchgehen würden.

Die römische Volksküche schmeckt fantastisch, obwohl es sich in unseren Augen – nehmen wir an, ich wäre Hamburger – um Abfall handelt. Rinderfilets, die Koteletts, Kapaune oder das Abbacchio (junges Lamm) waren vor 30 Jahren beim gemeinen Volk bestenfalls Wunschträume. Das war immer die Atzung der Cäsaren und Hofschranzen und Kardinäle, und das ist bis auf sonntägliche Ausnahmen bis heute so geblieben.

Letztlich kennt die gute Küche keinen Abfall. Selbst Blumenkohlstrünke können zu Brühe verarbeitet werden. Kartoffelschalen waren zu meiner Lehrzeit das Futter für die Schweine. Fleischabschnitte werden für Saucen angeröstet, ausgekochte Fischgräten können auf den Kompost. Nein, Abfall gibt es nicht, wohl aber verdorbene Ware, und die leider genauso häufig wie nachlässige Köchinnen und Köche.

P.S. Unter der Rubrik “Rezepte , Italien” Habe ich Pasta Fagioli notiert.

Hahnenfüße weichkochen, abfießeln, anbraten, oder auch nicht. In den Reis in die Pasta...Die Markthalle von Athen, ein wahres Schlaraffenland. Griechenland ist kein reiches Land, das Essen aber ein großer Reichtum.