Vincents Tagebuch

Die Linse

von | 26. Juni 2020 | Allgemein

Das Grauen meiner Kinderzeit hatte einen Namen, es war die Linse. Sie soll ja aus den Mittelmeergebieten, dem nahen Osten stammen und man fragt sich, warum sie es über die Alpen geschafft hat.

Wie Unkraut auch auf steinigstem Boden, so wächst die ideale Folgefrucht der Schwäbischen Alb: Lehm-Steine-Linsen. Fast ein geeigneter Titel für eine Heavy-Metal-Band. Weit vor der Erfindung der Schrotkugeln wurden Linsen schon in der Steinzeit angebaut. Wer sich als bibelfest wähnt, der weiß auch um den Doofkopf Esau.

Und Jakob kochte ein Gericht. Da kam Esau vom Felde heim und war müde und sprach zu Jakob: “Lass mich kosten das rote Gericht, denn ich bin müde!” Aber Jakob sprach: “Verkaufe mir heute deine Erstgeburt.” Esau antwortete: “Siehe, ich muss doch sterben. Was soll mir denn die Erstgeburt?” Jakob sprach: “So schwöre mir heute!” Und er schwur ihm und verkaufte seine Erstgeburt. Da gab ihm Jakob Brot und das Linsengericht, und er aß und trank, stand auf und ging davon.

Ein schlechtes Geschäft, denn die großen allgemein üblichen Linsen stehen bis heute im Ruf der Schwerverdaulichkeit. Manche Mediziner sagen, Linsen seien das Schrecklichste, was man seinem Magen antun kann. Und vor fünfzehn Jahren verschwand die Linse fast ganz von den Speisekarten. Nur im Schwabenland hielt sich das Gericht „Linsen mit Spätzle“ recht wacker. Dann entdeckten Gourmetköche die französische, kleine „Le Puy“-Linse und alle Vorurteile waren mit einem Schlag vom Tisch und die Linse wieder auf dem Tisch. Ähnlich kleine delikaten Linsen gab es vor dem Krieg auch in Deutschland. Doch die Ernte der Schoten und das Herauspusseln der Frucht war durch neuzeitliche Lohnkosten nicht mehr rentabel. Die Alblinse des Saatgutzüchters Fritz Späth verschwand und ward nie mehr wiedergesehen. Doch eines Tages geschah das Wunder, man entdeckte in St. Petersburg trotz heftigster Recherche nicht das Bernsteinzimmer, aber dafür etwas anderes und letztlich Wichtigeres.

Die alten Linsensorten der 1940er und 1950er Jahre, „Späths Alblinse I und II“, wurden 2006 in der Wawilow-Saatgutbank in St. Petersburg (Russland) entdeckt. Dort bekamen 2007 die Bauern der Erzeugergemeinschaft „Alblisa“ wenige hundert Linsensamen. Sie wurden 2008 bis 2010 in mühevoller Arbeit vermehrt. Anfangs in Gewächshäusern und später unter Hagelschutznetzen und letztlich dann im Freiland. 2011 konnte die Erzeugergemeinschaft schon auf 34 Hektar Späths Alblinse II, „Die Kleine“, anbauen und sie damit erstmals zum Verkauf anbieten. Die größere Schwester, Späths Alblinse I, kam nach der Ernte 2012 auf den Markt.

Es ist schön, wenn man sich zum Kochen aus der Region ein ursprüngliches Produkt besorgen kann, auf die Schwaben braucht man trotzdem nicht neidisch zu sein. Die „Le Puy“-Linse ist mindestens ebenbürtig und letztlich sind die zu Unrecht diffamierten großen Tellerlinsen im Geschmack eindeutiger als die Zwerglinsen, von denen es auch schwarze Sorten aus fernen Landen gibt.

Das Rezept für Linsen und Spätzle finden Sie bei den Überlebensrezepten.