Vincents Tagebuch

Hygiene

von | 26. Mai 2022 | Allgemein

Meine Jugend war ziemlich interessant. Mein Vater, Amttierarzt mit freier Praxis, amtete auch als Chef des Wirtschaftskontrolldienstes und auch als Chef des Schlachthofs von Schwäbisch Gmünd. Vater war Hygienefanatiker, arbeitete nie mit Gummihandschuhen sondern pflegte extrem kurze Fingernägel mit der Nagelbürste.. Darüber hinaus drehte sich bei ihm alles um die Nase.
An den Gerüchen erkannte er, – wer hätt‘s gedacht – , genau das Was und Wo des Stinkens. Gemüffel kommt nicht von ungefähr, oft sind Bakterien im Spiel und schlichtweg Unsauberkeit. „Wasser-Seife-Handtuch“, das war Papas Dreifaltigkeit, wie er das auch immer bei den Bauern gleich nach der Begrüßung im Befehlston über den Hof brüllte.

Er war gelernter Bakteriologe und betrachtete die Mikroorganismen als Teil unserer Welt, als Tierchen, die auch nur um ihr Leben kämpfen. Seine Promotion erlangte er nach Einnahme von Sulfonamiden, als er die Eiterbeule des Gemeindeebers von Waldstetten vor Auditorium verspeiste. Er hatte an den Siegeszug des Penizillins geglaubt und dessen Wirksamkeit dann erneut bewiesen Vor vierzig Jahren hatte er schon vor der leichtsinnigen Verwendung von Antibiotika gewarnt und auch davor, dass sich die Tierchen den durch Antibiotika erschwerten Bedingungen anpassen würden.

Besser Vorbeugen anstatt heilen war seine Devise. Seine wichtigste Hygieneregel, wie gesagt, hieß kurze Fingernägel. Mir brachte er denn Sinn dafür und auch das Bedürfnis danach, im Schlachthof von Schwäbisch Gmünd bei. Ich war vielleicht zwölf Jahre alt, als er mich vor das Elektronenmikroskop setzte. Ich hatte dreckige Fingernägel und musste diese putzen und ein Staubkorn Nageldreck auf einen Objekträger legen. Ein zweites Glas kam auf den Objekträger und dann wurde alles in das Mikroskop geschoben. Was ich damals sah habe ich nie vergessen. Es war von wuselnden Bakterien geradezu der Teufel los. Ich lernte dann schnell das für mich schwierige Wort Hügenie richtig auszusprechen.

Heute pflegen wir scheinbar optimale Hygiene, überall Hauben, Mundschutz, Gummihandschuhe, Waschbecken und Desinfektionsmittel ohne Ende. Gummihandschuhe und Plastikschneidbretter bieten für Bakterien aber ideale Bedingungen. Deshalb empfehle ich geschrubbte Holzbrettchen, die ich leider in meiner gewerblichen Küche nicht verwenden darf. Und dann: weg mit den Fingernägeln. Alleine die gestutzten Fingernägel, Wasser-Seife-Handtuch und man hat 90 Prozent der Hygieneprobleme gelöst.
Es gibt aller erdenkliche und wichtige Hygienevorsorge, vom Fingernägelschneiden redet niemand. Man glaubt es nicht, es laufen Köche herum, die haben Pfoten, als hätten sie gerade die Urgroßmutter ausgegraben. Darüber aber keinen Ton. Da werden offensichtlich Persönlichkeitsrechte berührt.