Vincents Tagebuch

Noch mal eine Gänsegeschichte

von | 20. Dezember 2020 | Allgemein

DIE GANS MEINER KINDHEIT
Der Herd wurde angezündet, wobei der Gasofen von Mutters langem Arm, mit abgewandtem Gesicht in Betrieb gesetzt wurde. Noch nicht lange her, da fuhr ihr eine Stichflamme ins Gesicht, dass sich für die nächsten Wochen die Rasur erübrigte. Der “Granatenschlag” hatte die ebenen Seitenwände des Ofens ausgebuchtet. Das Gerät hatte seitdem keine exakten Abmessungen mehr und wirkte etwas verschoben. Ein Ofen ist eine andere Art von Lebenspartner, zu ertragen und gewöhnungsbedürftig. Hat man alle Launen kennengelernt, will man nichts anderes mehr.

Der Kiste wurde auf Volldampf geschaltet, Stufe drei. Das letzte halbe Stündlein der Gans hatte geschlagen.  Ein irdener Gänsebräter war fingerhoch mit Wasser gefüllt und mit einigen Zwiebelscheiben versehen. Die stark gesalzene Gans wurde mittenhinein gesetzt. Der “Sakophag” wurde mit ritueller Ehrfurcht von meinem Vater ins “Rohr” geschoben. An die Gans ließ er niemand ran. Ab und an durfte Mutter, außer der Reihe, das Vieh mit ausgetretem Fett übergießen. Sie war für den Kartoffelsalat zuständig. Dafür wurden nicht die berühmten “Sieglinde” verwendet. Etwas weicher kochende Sorten mussten her. Sie sogen die reduzierte Fleischbrühe, den Essig und das reichliche Öl besser auf. Mutters Kartoffelsalat hatte, wie Lothar Spät es nannte, “soichnaß” zu sein. Der extravagante Trick war eine Messerspitze Curry. Kaum zu glauben, aber etwas Curry war unverzichtbar, das verstärkte den Maggigeschmack. Für mich heute noch ein Suchtproblem. In den Salat wurden im Sommer Gurken hineingehobelt, der Winter verlangte nach Endivien, der feingeschnitten kurz vor dem Auftragen untergemischt wurde.

Immer wieder wurde die Gans übergossen. Die Haushälterin Frau Slonek richtete das Besteck. Der Tisch verfügte über das Innenleben einer Ziehharmonika, und konnte auf fünfzehn Meter ausgezogen werden. Ein Brett ums andere wurde eingelegt, bis die Zimmerwände Einhalt geboten. Dreizehn Leute nahmen am Weihnachtsfesttag platz. Niemand sorgte sich um die Unglückszahl, da waren eher Bedenken angebracht, dass die Gans nur für zwölf reichen könnte.

Heute war ein Glückstag, die Stricknadel, die Vater wie ein Torero in die Keulen trieb, fand keinen Widerstand und ließ sich ebenso leicht wieder herausziehen. Das Tranchieren begann. Ein Schlegel wurde gleich abgezweigt und in der ‘Speis’ deponiert. Morgen war auch noch ein Feiertag, für Vater jedenfalls. Die berühmte einbeinige Gans des Tierarztes wurde in die restlichen Teile zerlegt. Meinem Bruder wurde erfolgreich eingeredet, er glaubt bis heute daran, dass der Bürzel das Beste sei, und bekam ihn als Statussymbol des Erstgeborenen. Meine vier Schwestern und ich erfreuten uns an den Flügeln und knusprigen Hautfetzen. Wir waren herrlich zufrieden, denn viel Soß’, Spätzle und Kartoffelsalat waren die Eckpfeiler unseres kulinarischen Verständnisses. Es war genügend da, trotzdem aß man mit größtmöglicher Geschwindigkeit. Der Nachschlag ist des Deutschen schönstes Gericht. Man traute dem Nachschub in der Küche nicht. Opa, der Mann der die Philosophie des Maßhaltens der griechischen Denker von Sokrates und eines Epikur zeitlebens verwaltet hatte, blickte angewidert über unsere Hemmungslosigkeit. Irgendwann einmal wurde mir, wie immer schwindlig. Raus an die frische Luft, Bruder Werner folgte und auch Vater. Man ging schweigend ums Haus. Wir brauchten diesbezüglich keine Worte. Die Binsenwahrheit, daß ein schwäbischer Schmaus, in katholischen Haushalten in zwei Teile fällt leuchtet ein. Erst der ungestüme Genuß, dann ein kleiner Rundgang ‘zum setzen lassen’, um danach nochenmal richtig zuschlagen zu können. Ein womöglich altgermanischer Brauch, als man noch nicht wußte ob der nächste Tag eine erfolgreiche Jagd versprach.

REZEPT:
1 junge Gans ca. 3 kg (mit schön gewölbter Brust)
reichlich Salz und groben Pfeffer
1 Bund Röstgemüse: Zwiebel, Karotte, Sellerie in Würfel geschnitten
1/4 l Rotwein
Gesamte Bratzeit mindestens 2 Stunden
______________________
Der Ofen muss zuerst auf 180° Grad vorgeheizt werden. Nach einer halben Stunde drehen wir auf 160 Grad zurück. Diese niedere Temperatur lässt das Tier weniger austrocknen. Wichtig wäre, dass man die Umluft im Herd abschaltet, damit die Feuchtigkeit im Ofen weniger abnimmt.  Die Fettpolster der Gans mit einer Stricknadel oder großen Spießgabel anstechen. Die Flügel und den Hals kleinhacken. Die Gans mit der Brustseite nach oben möglichst schon am Vortag mit reichlich Salz, Pfeffer, Beifuß und Lavendel einreiben.

Die Gans mit der Hälfte des Röstgemüses (vorwiegend Zwiebeln) gefüllt, kommt in eine ihr ausreichende Kasserolle, deren Boden die Knochen bedecken und etwas Wasser bedecken. Nach einer Stunde im den Ofen übergießen wir den Vogel ab und zu mit dem austretenden Fleischsaft.
(Bei meinen Eltern gab es noch keine Eisenkasserolle, sondern der klassische Gänsebräter war aus Steinzeug).
Nun restliche Röstgemüse dazugeben. Immer wieder die Gans übergießen und das Röstgemüse und die Knochen vom Kasserollenboden lösen. Beginnt das Gemüse zu dunkeln und röstet im reinen Fett, so muss etwas Wasser aufgegossen werden.

Ob die Gans fertig ist oder nicht, das entscheidet die Stricknadel, sie wird durch die dickste Stelle der Keule getrieben und muss sich leicht ein und ausführen lassen. Die Gans kommt auf eine Anrichteplatte und wird am offenen Ofenloch geparkt. Den Bratensatz in einen kleineren Topf passieren. Nach einer Ruhezeit von ein bis zwei Minuten kann man das Gänseschmalz abschöpfen. Der restliche Bratensaft wird mit etwas Mehlbutter gebunden und einem Viertel Liter Rotwein aufgekocht und evtl. mit Pfeffer und Salz abgeschmeckt.

Die Gans wird am Tisch entweder mit der Geflügelschere zerteilt, oder die Flügel und Keulen werden fachgerecht tranchiert und die Brüste dem Knochen entlang abgeschält.

Das Gänseschmalz in warmem Zustand in kleine Marmeladegläser füllen und kühl stellen. Gewiss, wir alle wissen um die Alarme der Ärzte, denen aber wenig zu trauen ist. Monatlich erscheinen irgendwelche „sensationellen“ Neuigkeiten, was gesund und was uns krank macht. Die Wahrheit ist, dass es keine absolute Regel gibt, außer der, dass man sich ein möglichst regelmäßiges Leben einrichtet, aber bei der Auswahl der Lebensmittel konsequent unregelmäßig sein sollte.