Vincents Tagebuch

Martinsgansgans

von | 9. November 2020 | Tagebuch

Meine Jugenderinnerung

 

Der Herd wurde angezündet, wobei der Gasofen an langem Arm, mit abgewandtem Gesicht in Betrieb gesetzt wurde. Noch nicht lange her, da fuhr Mutter eine Stichflamme ins Gesicht, daß sich für die nächsten Wochen die Rasur erübrigte. Der ‘Granatenschlag’ hatte die ebenen Seitenwände des Ofens ausgebuchtet. Das Gerät hatte seitdem keine exakten Abmessungen mehr und wirkte etwas verschoben. Ein Ofen ist eine andere Art von Lebenspartner, gewöhnungsbedürftig. Hat man alle Launen kennengelernt, will man nichts anderes. Der Ofen wurde auf Vollgas geschaltet, die Stufe drei. Das letzte halbe Stündlein der Gans hatte geschlagen.  Ein irdener Gänsebräter, fingerhoch mit Wasser gefüllt und wurde mit einigen Zwiebelscheiben versehen. Die Gans wurde mittenhinein gesetzt. Der ‘Sakophag’ wurde mit riteller Ehrfurcht von meinem Vater ins ‘Rohr’ geschoben. An die Gans ließ er niemand ran. Ab und an durfte Mutter, außer der Reihe, das  Vieh mit dem ausgetreten Fett übergießen. Sie war für den Kartoffelsalat zuständig. Dafür wurden nicht die berühmten ‘Sieglinde’ verwendet. Etwas weicher kochende Sorten mußten her. Sie sogen die reduzierte Fleischbrühe, den Essig und das reichliche Öl besser auf. Mutters Kartoffelsalat hatte, wie Ministerpräsident Lothar Spät es nannte, ‘soichnaß’ zu sein. Der extravagante Trick war eine Messerspitze Curry. Kaum zu glauben, aber etwas Curry war unverzichtbar, das verstärkte den Maggigeschmack. Für mich heute noch ein Suchtproblem. In den Salat wurden im Sommer Gurken hineingehobelt, und im Winter war die Zeit des Endivien, der feingeschnitten kurz vor dem Auftragen untergemischt wurde.

Immer wieder wurde die Gans übergossen. Frau Slonek, die Haushälterin aus Böhmen richtete das Besteck. Der Tisch verfügte über das Innenleben einer Ziehharmonika, und konnte auf fünfzehn Meter ausgezogen werden. Ein Brett ums andere wurde eingelegt bis die Zimmerwände Einhalt geboten. Dreizehn Leute nahmen am Weihnachtsfesttag Platz. Niemand sorgte sich um die Unglückszahl, da waren eher Bedenken angebracht, daß die Gans nur für zwölf reichen könnte. So weit war es noch nicht. Der Spätzleteig ruhte in einer Steingutschüssel und durfte nicht gestört werden, denn er war mit einem rotkarierten Küchentuch behütet. Der Teig verlor dabei die gummiartige Konsistenz, denn er war sehr hart, und Vater wollte die weichen, -wie er immer sagte – ‘nassen Hunde’ nicht. Frau Slonek war mit der Suppe beschäftigt. An Weihnachten war das immer eine Markklösschensuppe, der feine Schnittlauch kam von Töpfen, die auf der Fensterbank darauf warteten und immer wieder geschoren wurden…

Gänse
Holzschnitt von Gänsen, als Vorfreude für den 11. November