Liebe Laura, eigentlich wollte ich Dir nur kurz schildern, wie ich mit Eva Weihnachten verbracht habe. Die drei Tage waren sehr schön und wir konnten allem Weihnachtsgedusel, inklusive China-Leuchtbirnchen und sonstigem Komödienstadel sehr gut entgehen. Neben unserem Hotel in Sils Maria findet der Interessierte das Nietzsche Haus. In diesem kleinen Häuschen, ein Museum, hätte ich mich wochenlang aufhalten können. Die kurze Zeit meines Besuchs genügte aber, um über Nietzsche mehr nachzudenken. Vor allen Dingen widmete ich mich unglaublichen Fehlinterpretationen, denen dieser Philosoph bis heute ausgesetzt ist. Du weiß ja, dass ich sechs Jahre in einer Klosterschule verbracht habe und aus reiner Neugierde aus meines Vaters Regal das Buch des Philosophen Nietzsche “Also sprach Zarathustra” stibitzte und zum Lesen mit ins Internat nahm. Irgend ein Pope entdeckte das bei mir und man wollte mich aus der Klosterschule werfen. Mein Vater musste antanzen, zu Kreuze kriechen und auf die Knie fallen, damit ich bleiben durfte. Mit einer Spende an das Hohe Haus war dann das Problem schnell verweht. Der Stein des Anstoßes war Nietzsches Begriff des Übermenschen. Die Nazis haben das für ihren Arierwahn missbraucht. Der Vatikan jedoch hatte allerdings guten Grund das Buch auf den Index zu setzen. Mit dem Übermenschen, ohne das jetzt ausufernd zu analysieren, meinte Nietzsche letztlich nicht, dass man sich selbst zum Gott macht. Der christliche Gott ist tot sagte der Philosoph. Nicht auf Gott sollen wir uns verlassen, sondern auf unser Inneres kommt es an. Das müssen wir verbessern, um über das Stumpfe und Animalische hinauszuwachsen. Ganz klar, das Thema ist viel komplizierter, aber ich hänge der Ansicht nach, dass etwas ungefähr zu wissen besser ist, als gar nichts zu wissen. Wer Umgekehrtes sagt liegt auch nicht ganz falsch, denn gar nichts zu wissen hat etwas Friedfertiges, oder Pazifismus ist bei Wehrlosigkeit kein Kunsstück. Leider tritt bei völlig Unbedarftheit oft dann das wilde Tier hervor, das in jedem Menschen schlummert.
N un aber weg von Nietzsche und unmittelbar in der Nähe, den Malojapass tausend Meter hinunter. Das tiefe Tal des Bergells hatte ich lange nicht besucht. Ich spürte mit jeeder Spitzkehre, dass es, wenn auch lange nicht besucht, doch meine zweite Heimat ist. Unser Weg führte nach Solio und damit auch in die Gedankenwelt von Rainer Maria Rilke. In meiner Bibliothek ist so gut wie jedes seiner Bücher und vor 30bis 40 Jahren habe ich mich intensiv mit ihm beschäftigt. Dann zog es mich aber, sozusagen in meiner Sturm-und-Drang-Zeit nach mehr Wildheit und ich kam von ihm ab.
Nun habe ich ihn wieder entdeckt und er verhilft mir in besondere Maße zur inneren Ruhe und zur Nachdenklichkeit und lenkt meinen Blick weg von der Hässlichkweit unserer Zeitläufte und mehr hin zum Schönen.
In unserer Zeit ist ja nur interessant, was irgendwie schrecklich ist. Unglück, Blut, Mord und Totschlag, rauchende Trümmer, und sonst noch alles was eine Apocalypse heraufbeschwören könnte. Krass gesagt, mit einer Blumenwiese können Sie heute keinen Fotopreis mehr gewinnen, sondern nur noch mit abgerissenen Köpfen, Blutsudelei, geschändet Körpern und sonstigen Ruinen. Ich habe beschlossen mich all dem Schrecklichen zu entziehen. Dies natürlich mit dem kleinen Hintertürchen, dass wenn ich helfen kann, dann auch geholfen werden muss. Insgesamt bleibt aber die hässliche Welt draußen und Rainer Maria Rilke drinnen.
Aus dem Stundenbuch von RMR
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.