Vincents Tagebuch

Meine Rede zum Kernerpreis

von | 20. September 2023 | Allgemein

Weinsberg, 18. September 29023, hunderteinundsechzigster Todestag

Rede zum Kernerpreis
Justinus Kerner, Dichter und Arzt betreute die Patientin Friederike Hauffe, darüber hat er ein Buch geschrieben.  „Die Seherin von Prevorst“. Hätte er seine Seherin damals nach mir gefragt, vorausschauend hätte er sich bestimmt die Augen gerieben. Dass nach all der Zeit, er, der Arzt, der medizinische Forscher, der Poet in Weinsberg nicht vergessen, sondern immer noch über die Maßen gefeiert wird. Das andere wäre die Auslobung eines Preises zu seiner Ehre. Bis zum gestrigen Tage wurden die besten Köpfe der Nation gekürt. So weit so gut:

Jetzt aber kommt’s, bestimmt hätte er über sein gewohntes Quantum noch einen weiteren Liter Wein benötigt, um seinen Schluckauf zu minimieren, dass nun ein Koch in diese  Ehrenriege entert. Nicht nur Justinus, sondern auch ich reibe mir die Augen. Man bedenke, da lebte in Schwäbisch Gmünd ein schwächlicher Jüngling, ein Träumer, der mindestens einmal in der Woche folgendes an den Kopf geworfen bekam: „Du bist dumm auf’d Welt komma, hast nichts dazu gelernt und die Hälfte vergessen! Zugegeben, ich war ein katastrophaler Schüler, jedoch ein großartiger Träumer. Meine Altvorderen, allesamt Akademiker erwarteten, dass die traditionelle Intelligenz der Familie in den Genen fest geschrieben zu sein hat. Ich kam unter die Fittiche meines Opas. Ein Gentleman, das hatte der Altphilologe in England gelernt. Hoch aufgeschossen, geradezu aristokratisch, hatte ihn niemals jemand ohne Krawatte und Dreiteiler-Anzug gesehen,  dies auch wenn er im Garten herumhackte. Er pflegte im Krieg einen Stammtisch im „Adler“ in Straßdorf, gleich oberhalb von Schwäbisch Gmünd. Bei diesen Zusammenkünften wurde ausschließlich Lateinisch g. Am Nebentisch residierte des öfteren der Chef der Nazis, Gauleiter Oppenländer, und die Lateiner tauschen sich in unmittelbarer Nachbarschaft darüber was sie auf BBC London vernommen hatten. Opa sprach besser Lateinisch als ich heute Schwäbisch und er war mit mir verzweifelt, versuchte er doch vergebens mir eine gewisse Halbbildung beizubiegen.

Im Sinne Justinus Kerners verströmten die Räumlichkeiten des Studienrats zweitausend Jahre Wissen.  Auf Magnetische oder zumindest geistige Art, oder sonstwie sickerte mir doch einiges durch die Fontanelle. Ich war nämlich von tausenden Büchern umgeben. Die Buchrücken konnte ich mir gut merken, man kam ja dauernd daran vorbei kam.Es war wie Daumenkino Wimpernschlag um Wimpernschlag grüßten Aristoteles oder Seneca, der ganze Goethe, Hölderlin, Rilke, Georg Büchner, Thomas Mann, und die schwäbische Poetenkamarilla, darunter Eduard Mörike, Gustav Schwab, natürlich der famose Justinus, der Hauff, der Uhland, flankiert von Reingeschmeckten wie Karl August Varnhagen von Ense, Nikolaus Lenau, Ferdinand Freiligrath Freundeskreis Justinus Kerner. Man nennt diesen Kreis auch die schwäbische Dichter Schule, was natürlich Blödsinn ist denn all diese Leute waren keine Schüler, sondern anerkannte Literaten. Justinus Kerner war ein Mann des Friedens, doch in vielen seiner Besucher geehrte die Revolution, die sich 1848 zuspitzte. Man kann sagen, Kerner amtete als eine Art Herbergsvater und Relaisstation der Schöngeisterei und der kritischen Gedanken seinerzeit.

Zurück zu meiner kleinen Lebensskizze. Koch sei der schönste Beruf der Welt. So die Losung meines Vaters von gerade zu biblische Wucht. Kurzum, Koch sollte ich werden. Bis meine Lehrstelle frei würde zog es mich, gegen den Willen der Familie zu einem Praktikum beim Nachbarn meines Großvaters, dem Bildhauer Jakob Wilhelm Fehrle. Ich musste den Gips anrühren, Drahtgestelle basteln und den Gips grob dran werfen. Ferner galt es den Lehm weichzukneten damit der Künstler seine Modelle gestalten konnte. In der Ecke des Ateliers, neben dem Ofen, posierten immer wieder nackte Schönheiten, die der Meister abzeichnete und ich, angesichts dieser Szenerie vor Maulsperre oft der Gips harttrocknen ließ, bevor ich ihn an die Drahtgerüste pappen konnte. Zwangsläufig blieb nicht aus, dass ich mir um meine Zukunft, ernste Sorgen machte: “Ich müsste ja völlig blöd sein, mich ich als Koch und Smutje zu verdingen. Nein, Künstler will ich werden und nicht unter der Dunstabzugshaube vermodern“. Paris soll die Arena meiner Leidenschaft werden. Was mein Kunstmentor, der Professor Fehrle, mir neben der Arbeit erzählte löste eine Art Zwangsneurose aus: Raus aus Gmünd und ab nach Paris. Da war die Rede von Picasso und George Braque mit denen Fehrle gemeinsam as Atelier teilte. Gegenüber in dem dreistöckigen Oktogon, einem Atelierhaus, das heute immer noch in Betrieb ist und sich „La Ruche“ nennt (Bienenkorb). Dort arbeitete Marc Chagall, Chaim Soutine und Amadeo Modigliani. Ich hatte ständig heiße und hochrote Ohren.

Es war allerdings die Zeit, als man dem Willen seines Vaters nicht ausweichen konnte. Ich wurde zu einem Elendshaufen zusammengeschrien. Mir blieb nichts anderes als der „Ordre de Mufti“ folge zu leisten. Mit dreiundzwanzig brachte ich als fertiger Koch die Meisterprüfung hinter mich. Ich war dann ein wenig stolz, weil ich noch nicht wusste, dass man nie Meister ist, sondern immer und lebenslang Lehrling bleibt.

Im Anschluss lernte ich meine Frau kennen und mit vierundzwanzig eröffnete ich mit ihr in Schwäbisch Gmünd das Restaurant Postillon. Prominente Gäste besuchten unsere Restauration. Beispielsweise illustrere Protesttouristen zu den  Mutlanger Atom-Demonstrationen: Heinrich Böll, Martin Walser, Eckart Henscheid, Robert Gernhardt, Günter Grass, sie besuchten auch unser Restaurant. Über das Restaurant kann ich nur im Plural reden. Bis zu ihrem Tod war es weniger mein Restaurant, sondern das Fundament und die Stabilität lieferte meine Ehefrau. Sie sorgte dafür, dass ich nicht zu sehr in Literatur und Kunst abdriftete

Justinus Kerner wurde von seinem Rickele stabilisiert und in der Spur gehalten. Und bei mir war es die Elisabeth. Dort wo tüchtige Frauen sind ist die Zentrale und die Heimat.Man bewegt sich im Kreis, und mit dem Alter wird dieser immer enger gezogen, und so blieb nicht aus, dass mich ganz besonders die schwäbische Kultur gefangen nahm. Dichter und Denker in diesem Landstrich sind Legion, allein was aus evangelischen Pfarrhäusern das schwäbische Geistesleben befeuerte, ist im deutschen Sprachraum ziemlich einmalig.
Das Schwabenland ist ein äußerst spannendes Terrain, ich begann es abzuweiden. Es gibt so gut wie nichts, was mich nicht irgendwie interessieren würde. Dies sprunghafte Wesen teile ich mit Justinus Kerner, der allerdings wesentlich tiefer bohrte und nicht, wie ich auf halber Strecke gerne etwas Neues beginnt.

Zu Übersinnlichem, einem Spezialgebiet des Mediziners Kerner, zog es mich nie besonders hin. Ich bin ein Mann des Handwerks und der Realitäten. Mittlerweile untersuche ich im Sinne, Justinus Kerners auch die Phänomene des Geistes, der Geistesverwandtschaft und der nicht sichtbaren Verbindungen zwischen Menschen und Geschehnissen. Justinus Kerner war nie Esoteriker. Ganz klar, er beschäftigte sich aus medizinisch-beruflicher Neugierde mit Spiritismus und Hellseherei. Als Beispiel seine Vielseitigkeit sei aber auch angezeigt, dass der forschende Medizinmann mit seiner Kleckserei die Grundlagen des Rorschachtest erfand. Dazu tropft man innen im Falz eines Heftes einen großen Tintenklecks und klappt das Heft dann zu.  Öffnet man es wieder so sieht man ein Gebilde, links und rechts symmetrisch. Oft sieht es auch wie ein Schmetterling. Wenn man lange darauf schaut verschwimmt manches und es entstehen gewisse Traumfiguren. Jeder sieht etwas anders, was dann die Psychologie zu entschlüsseln versucht.
Weiterhin ausgiebig rumorte der Mediziner im Kosmos eines Bakteriums. Die Rede ist vom Botulus-Bakterium für dessen Erforschung er die Grundlagen lieferte. Darüber hat übrigens mein Vater als Tierarzt und Bakteriologe promoviert. Botulus ist das lateinische Wort für Wurst, und auch der Name für ein Nervengift das Atemlähmung hervorruft und vor der Erfindung des Penicillins meist zum Tod führte. Das Bakterium ist in Wurstdosen und Gemüsekonserven gerne zu Gast. Die Bakterien gedeihen auch unter Luftabschluss und Kerner kam mit seinen Forschungen sehr weit. Nicht erfunden hat er allerdings Mode-Medikamentierung Botox, ein Gift des Bakteriums, das für die Gesichtglättung und Stirnlähmung der Lifestyldamen verantwortlich ist.

Bevor Sie liebes Publikum, in Lähmung versacken, komme ich zu Ende und will nun den Dichter, Arzt und Forscher Kerner ehren, nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen und poetischen Künste, sondern weil er den Weinsberger Frauenverein gegründet hat. Die Weiber von Weinsberg mit ihrer Burg Weibertreu, wahre Heldinnen damals wie heute. Wer das Wort Weib allerdings als diskriminierend empfindet bekommt von mir einen Gnadenerlass, wegen zumindest partiellem Bildungsmangel.

Meine großen Dank noch an den Bürgermeister und das Kremium, an die große Laudatio der württembergischen Literaturpäpstin Irene Ferche, und all den Leuten die mir das heutige Podium ermöglicht haben.
Vielen Dank

Kernerpreis