Montag
Die Nacht gestern, mondhell und diamantengesprenkelt. Heute, kühler Morgen, klare Luft, die Bäume glänzen in sommermüdem Grün. Das hat mich an die Provençe gemahnt. Dort müsste man sein: Halt! Ich lege gleich wieder den Rückwärtgang ein. Bei diesem kristallinen Licht braucht’s keine Provençe, die haben wir hier. Ich stieg die Treppe hinab in meine Bücherhöhle, in das abgetrennte Revier der französischen Literatur. Zwei handvoll Werke von René Char griff ich mir.
Vor einigen Jahren fuhr ich mit dem Motorrad durch den Vercor, dem zerklüfteten Rückzugsgebiet der Réstistance nach L’Isle sur Sorgue. Das Städtchen liegt östlich von Avignon im Schatten eines riesigen Felsens. Aus ihm stürzt in einem einzigen gewaltigen Schwall, das klarste Blau. Es ist die Sturzgeburt, nicht eines kräftigen Bachs, sondern eines veritabler Flusses. Soll noch mal einer behaupten, dass die Landschaft nicht den Menschen prägt und der Inspiration zuträglich ist. Die Provençalen sind letztlich tiefverwurzelte Bergler, von dem Menschenschlag der auch im ländlichen Schwaben vorherrscht.
So mancher pflegt in Gedanken ein Idol, ich habe einige, doch Réne Char, einer der größten Dichter Frankreichs, beherrscht die vorderen Reihen. Er wurde in L’Isle sur Sorgue 1907 geboren und ist 1988 in Paris gestorben. George Braque, Pablo Picasso, Juan Miró und andere Künstler illustrierten sein Bücher. Seine Gedichte sind ziemlich hermetisch und nicht leicht zu verstehen. Char war ein Kämpfer, auch mit dem Karabiner, und zugleich so sensibel, dass er mit Albert Camus eine intensive Feundschaft pflegen konnte. Seine Gedichte sind demensprechend.
1940, die NS-Mordbrenner näherten sich seiner Heimat und Char tauchte in den Untergrund ab. Als Captaine Alexandre führte er eine Résistancetruppe unter dem Kampfnamen Hypnos. Er zeichntete verantwortlich für den Bereich Durance-Sud der A.S., der Armée Secrète,
Solcher Mut ist rar, gab es aber auch in Deutschland, darüber werde ich separat berichten.
Jedenfalls, Char betrachtete Dichtung als eine Möglichkeit des besseren Erkennens der Wirklichkeit.
Der Turmsegler
Turmsegler mit den zu großen Flügeln, der da kreist und schreit seine Freude rings um das Haus. So ist das Herz.
Er läßt den Donner verdorren. Er sät in den heiteren Himmel. Streift er den Boden, schlitzt er sich auf.
Sein Widerpart ist die Schwalbe. Er verabscheut die häusliche. Was gilt das schon: Filigran des Turms?
Er rastet in dunkelster Höhlung. Niemand hat es so eng wie er.
Im Sommer der langen Helle streicht er davon in die Finsternis durch die Fensterläden der Mitternacht.
Kein Auge vermag ihn zu halten. Er schreit, das ist sein ganzes Dasein. Ein schmales Gewehr streckt ihn nieder. So ist das Herz.
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Das Herz ist die Metapher für Lebenswillen. Im Gedicht keinerlei poetische Gefühlsduselei.
Doch wer jetzt Gefühliges erwartet, verrät nur den eigenen Hanum Klischee. René Char ist von dergleichen, wie das folgend zu hörende Gedicht „Le Martinet“ belegt, turmhoch entfernt – und nicht nur ein zivilisationsgeschädigtes Herzflattern: