Liebe Laura, Du erinnerst Dich, ich war mit Elisabeth in Wien.
Irgendwann einmal wurde der Rechtschutz erfunden, der nützlich sein kann, aber auch ganz entsetzliche Nebenwirkungen hat. Der Bürger unserer deutschen Frustrationsblase klagt, was das Zeug hält. Ein falsches Wort, rumms, man hat eine Anzeige am Hals. Manchmal denke ich, dass hinter diesem Verhalten womöglich Lobbyisten der Jurisprudenz stecken.
Bin ich harmoniesüchtig? Wenn ich mich ärgern muss, wenn ich vielleicht sogar Grund zur Klage hätte, besser gesagt zum Klagen, dann lass ich das lieber. Es ist nicht bewiesen, aber irgendwie spüre ich es: Wenn ich mich ärgere, versaut das mein Innenleben. Deshalb lasse ich nicht zu, dass mir die Galle überläuft, oder hab von vornherein eine Scheu gegen Streit.
Meine Nachbarin hat einen Baumpfleger oder Gartenspezialisten, der die Hecke zu mir schert, und das ganze Gestrüpp fliegt zu mir auf den Weg und bleibt dort liegen. Nun könnte ich anrufen, Klage androhen und Remmidemmi machen. Das würde aber einen Aufwand bedeuten, das wäre mir viel zu uneffektiv, denn die Lebenszeit ist begrenzt und von meiner Warte aus mittlerweile einsehbar. Bis ich das Nachbarschaftsproblem am Telefon geklärt und womöglich den jahrelangen Frieden gestört hätte, räume ich jedes Jahr innert fünf Minuten das verdammte Zeugs auf meinen riesigen Komposthaufen. Ein Gärtner, der jeden Winter mir die Bäume schneidet, hat mir einmal erklärt, der monströse Komposthaufen wäre ein großes Kapital. So bin ich also glücklicher Millionär und bestimmt seliger als mancher Milliardär.
So gesehen hat meine Nachbarin mich bereichert, und es gibt also nichts zu klagen. Mir hat mal jemand erzählt, dass Stuttgarter Rechtsanwälte nicht schlecht von Nachbarschaftsklagen leben. Was für eine Verschwendung an Nerven! Was für eine Übersäuerung der Eingeweide! Ich bin kein Medizinmann, aber ich glaube, dass durch die Klagerei viele Krankheiten entstehen, die ich infolge Nachbarschaftspazifismus einfach nicht habe.
Liebe Laura, ich bin pumperlg’sund, weil ich mich zwar oft ärgere, aber selten länger als zehn Sekunden. So ist mir Hassen unmöglich. Ich kann einfach niemanden hassen, muss aber gestehen, dass meine Menschenfreundlichkeit nicht so weit geht, dass ich irgendeinen Mitmenschen für hassenswürdig halte. Der Mitmensch ist mir es nicht wert.
Durch Zufall lernte ich die schärfste Waffe gegen Beleidigungen kennen. Das kam so. Ich war mit meiner Frau in der angesagten Wiener Schnitzelhölle Meissel &Schaden. Rauchendes Fett, die Küche hinter riesigen Scheiben – Schaufenster für die Helden der Arbeit: Daran vorbei wurden wir an einen Tisch geleitet. Er war sozusagen in einem Wurmfortsatz des Restaurants ganz hinten in der Ecke.
Die Bude war brechend voll, der Sauerstoff gering, schreiende Schnitzelvertilger, Tellergescheppere und inmitten des Orkans: stoische Kellner. Die Schnitzel wurden aufgetragen. Meines in Schweineschmalz gebacken, Elisabeths Riesenlappen in Butterschmalz vergoldet. Eine Flasche grüner Veltliner senkte den Puls. Das Tohuwabohu lief nicht voll ins aus dem Ruder, sondern zeigte sich als großartig organisierte Abfertigung: eine perfekt organisierte Fließbandmaschinerie. Erinnerte an Chaplins „Moderne Zeiten“. Mit anderen Worten: Die Firma stampfte ähnlich einem Kriegsschiff in rauer See und hielt trotzdem Kurs.
Frau Elisabeth, damals schon ziemlich krank, schwächelte. Wir mussten wegen Hitze und Sauerstoffmangels abbrechen. Also nichts wie raus. Wieder an den rauchenden Fettwannen vorbei. Sie sind die Brennkammer des Betriebs und ein wichtiger Werbeträger, denn der Gast hat die freie Wahl von Wiener Schnitzel in Schweineschmalz, Wiener Schnitzel in Öl, Wiener Schnitzel in Butterschmalz. Als friedlicher Schwabe sage ich mir: „Ma hot‘s essa kenna“. Es war sogar a bissle besser als beim Stephansdom, beim Schnitzelterminal Figlmüller, an dem bevorzugt Bustouristen andocken.
Endlich im Freien, an der frischen Luft. Die Stadt Wien wurde ihrem Namen gerecht: Vienna, Vindobona. Ein Taxi wartete und fuhr gleich los. In Wien kenne ich mich einigermaßen aus. Die Fahrt zum Hotel „Kärntner Hof“ dauerte ziemlich lange. Der Fahrer war entweder völlig unkundig oder hat uns blöde Touristen umsatzbefeuernd mit der Kirche ums Dorf kutschiert. Am Hotel angekommen, bezahlte ich meinen Obolus und sagte ihm, „Trinkgeld gibt’s nicht: Sie sind ein zu schlechter Droschkist!“
Mit Madame Elisabeth waren wir bereits zehn Meter vom Taxi entfernt. Ich hörte hupen, wendete den Hals, und das Taxi stand immer noch still wie eingefroren. Plötzlich sprang die Tür auf, der Fahrer jumpte aufs Pflaster. Er war kein Wiener, sondern ein aus dem Nahen Osten Zugewanderter. Er schrie und hüpfte wie ein wahnsinniger Derwisch, und unzählige Male hallte sein Fluchen durch die Gasse: „Du fette Sau, Du fette Sau!“
Der tobende Kobold rief bei mir einen Lachkrampf hervor. Ich kriegte mich fast nicht ein, denn die saulustige Szene erinnere mich an einen Werbespot der Zigarettenfirma HB. Meine Generation kennt noch dieses wunderbare HB-Männle, das in einem Fernsehspot, in wütender Raserei sich fast selbst demontiert – aber Gottseidank gibt es ja diese Zigarette: „Halt, warum denn in die Luft gehen? Greife lieber zu HB!“
Mein Lachkrampf entpuppte sich als wunderbare Therapiekeule. Der Chauffeur mit Taliban-Gesichtsmatratze erstarrte einige Sekunden, kam wieder zu Sinnen und hechtete sich dann hinter sein Lenkrad. Er katapultierte sich mit rauchenden Reifen aus der Gasse.
Nun ja, Zeugen hatten den ganzen Slapstick beobachtet. Einer übergab mir auf einem Zettel die Autonummer der Droschke. Wegen Beleidigung hätte ich klagen und wahrscheinlich gewinnen können. Ich habe es nicht getan, habe mich stattdessen amüsiert und dadurch meinen Gegner preiswert vernichtet.

