Liebe Laura,
hast recht, bleib’ daheim. Sommerhitze nennt sich nun Hitzekatastrophe. Ich habe in Süditalien Arbeiter bei 40 Grad erlebt, welche eine Straße geteert haben. Okay, das ist natürlich Konditionssache und ist ab einem gewissen Alter nicht möglich. Was ich sagen will, solche Hitze gab es schon immer. Ich erinnere mich auch an meine Kindheit, dass ich mir beim Barfußlaufen die Füße verbrannte.
In Stuttgart war es bis heute nicht heißer als 33 Grad. Überall wuchern die Katastrophenmeldungen, das kann man bereits eine Desinformationsindustrie nennen. Da wird kaum aufgeklärt, sondern es werden Leichtgläubige, oder soll ich sagen Blöde, vollends ganz verrückt gemacht.
Vor Hitze kann man sich nämlich ganz einfach schützen und das weiß jedes Kind. Viel Wasser trinken, wenig bewegen und das nur im Schatten, und im Auto nur herumkurven, wenn es eine Klimaanlage hat. Wie gesagt, diese verdammt Hitze gab es auch früher. Man fuhr dann nicht nach Spanien oder urlaubte in Malle wo es noch heißer ist, sondern man machte sich auf den Weg in die Sommerfrische. Hoch hinaus oder ab in den Wald.
Also los! Davos, anderthalb Stunden vom Bodensee weg, liegt mit über 1.500 Metern ja schon hoch, aber ich muss noch höher hinaus. Die Mittagssonne prügelt auf mich ein. In meinem Notizbüchlein ist in Davos auch kein standesgemäßer Futtertrog verzeichnet. Da steht gar nichts außer, dass aus beruflichen Gründen und auch wegen eines gewissen Nostalgiedrangs sich das hochgelegene Hotel Schatzalp empfiehlt. Ich fahre an die Talstation, denn dieses Hotel kann man nur mit einer Seilbahn erreichen. Einen Parkplatz finde ich ganz in der Nähe bei einem Hotel, das sehr alt, sehr schön und marode, offensichtlich auf den Abbruch wartet. Der hauseigene Parkplatz ist leer, und wenn ich darauf parke, dann nicht mehr. Solche traurigen Orte nennt man heutzutage “Lost Places”, und ich denke Spekulanten lauern dieses denkmalwürdige Gründerzeitgebäude flachzulegen.
Nicht einmal hundert Meter sind es hinunter zur Schatzalpbahn. Von 1.560 auf 1.860 Meter, also 300 Höhenmeter wird mich die Seilbahn hochziehen und diese Seilschaft, diese drei Seillängen von jeweils 100 Metern kosten zehn Franken hinauf und zehn Franken hinunter. Naja, besser als geloffen.
Mein Abteil ist mit einer jüdischen Großfamilie gesteckt voll. Die Jugend ist ausgelassen und lustig, die Pubertierenden schießen Sefies, die Erwachsenen, allesamt in schwarz, schauen mich nicht an, und wenn, dann ganz kurz und irgendwie abweisend. Ich kenne solche Abwehrhaltung auch von Begegnungen mit Afrikanern, auch von Moslems. Ich kann mir auch vorstellen warum. Sie denken, dass ich so wäre wie viele, sie nämlich ablehnen oder auf sie herabsehen würde. Freilich, Rassisten gibt es in Deutschland in großer Zahl, wenngleich ich deren Beweggründe nicht verstehen kann, die Verunsicherung der Juden aber sehr wohl.
Nun bin ich oben auf Thomas Manns Zauberberg. Dieses Hotel hat literarische und filmische Geschichte geschrieben. An einer Cafeteria vorbei führen einige Stufen hinauf zu den Arkaden, genauer gesagt sind es Kollonaden, da sie gerade und kein Rundbögen aufweisen. Der Säulengang zieht sich die ganze Front entlang und beherbergt weiß gedeckte Tische. Hier lagert ein Völkchen bei Kaffee und Kuchen oder beim Mittagessen oder wenigstens bei einem kühlen Getränk. Ich bitte um einen Tisch, der mir artig auf der Terrasse zugewiesen wird. Diensteifrig wird nach einem Getränk gefragt und ob ich essen wolle. Wenig später schreibt sich der Kellner, offensichtlich ein heiterer Student, flott wie kurz zuvor vom Surfbrett abgesprungen, meine Wünsche auf seinen Block. Ich wähle das Thomas-Mann-Menü für sechzig Stutz. Der Schweizer sagt übrigens niemals Fränkli, daran erkennt er den Deutschen, er spricht immer von “Stutz”, folglich sechzig Stutz sind gleich sechzig Franken. Mit dem Essen habe ich auch ein Glas Bier bestellt.
Fünfzehnzehn Minuten tut sich gar nix. Um der Dehydrierung zu entgegen muss ich handeln. Mit vier Stufen hoch bin ich im Inneren des Palasts mit einem Elan am Büfett, dass der Tresen wackelt. Eigentlich bin ich langmütig, aber wenn ich Durst habe schlägt meine Tiger-DNA durch. Zwei Kellner, lustig quirlige Typen, der eine mit Scheiterhaufenfrisur, der andere ganz der Surfbretthipster. Die Kerle werden von Tatoos zusammengehalten, unterhalten sich angeregt und erzählen sich irgendwelche Streiche aus ihrem Leben. Von der Treppe gut auf Puls, blase ich erstmal ab um dann das abzuschleudern, was man früher einen Granatenanschiss nannte. “Ich brauch sofort ein Bier sonst falle ich tot um”. Mitten im Zornesgewitter merke ich, dass meine Erregung übertrieben ist. Mein Gesicht wirft schnell den Hebel herum. Grinsende Zornausbrüche werden immer gerne genommen. Beiden Kerle sind fix im Kopf und solche Leute haben immer Humor. Irgendwie passen wir gut zusammen. Kaum sitze ich und ein Feuerwerk der Servierkunst kündigt sich an. Brot, Butter und Apfelschmalz sind ruckzuck auf dem Tisch. Die Halbe Bier hat mir der Barmann als Soforthilfe gleich am Tresen in die Hand gedrückt. Dann schwebt eine Etagère heran, das ist ein dreistöckiges Silbergestell, wie ich es noch aus meiner Lehrzeit kenne. Hier herrscht “Old Style” wie im englischen Königshaus. Obenauf Butter im Zwischendeck Russische Eier und zwar Original mit echtem Kaviar. Im Parterre des Silbergestells ruht ein Brötchen, das sich wenig später als warmer Brioche outet. Die gefüllten Eier, ein Gericht, das ich seit meiner Lehrzeit nicht mehr auf die Zunge bekam. Wir Lehrlinge nannten das damals Stalinklöthen mit einer Unmenge an Mayonnaise. Dieser Overkill an Mayonnaise damals führte bis heute zur Diskriminierung dieser wunderbaren Würzcreme. Überraschend war, der Kaviar auf den Eiern war echt und alles schmeckte phänomenal. Als Tourist ist man ja abgehärtet und so griff ich mir fast widerwillig das Brötchen und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ich biss hinein, es war warm, es war luftig wie Watte, es war von unvergleichlichem Butteraroma, es war eine Brioche der Spitzenklasse und offensichtlich kein Backstubenfindling, sondern frisch aus dem Ofen. Eigentlich hätte ich nun einen Wein bestellen sollen, aber die Urlaubsreise hat ja erst begonnen und es stand noch einiges Kilometerfressen bevor. Außerdem gluckerte das Bier eiskalt in die Kehle, denn selbst hier oben zeigte das Thermometer meiner Computeruhr satte sechsundzwanzig Grad.
Genüsslich lehnte ich mich zurück, den Blick auf unendlich, als mich von hinten eine Frauenstimme aufschreckte. “Gella’se, sia send dr Herr Klink”. Die Lady kam zu Seite, wir blicken und an und ich stotterte, woher wissen das? “Jo, usm Fernsähh”. “Aber liebe Frau, das ist doch mindestens zehn Jahre her?” Sie dann dann mit besorgten Augen, als ob ich nicht ganz bei Trost sei: “Ha nai, vorgescht ärscht…” Mir dämmerte, dass der SWR, um Kosten zu sparen alle alten Sendungen von mir exhumiert. Mit der Schweizerin entspann sich ein nettes Gespräch, an das ich mich momentan nicht erinnere. Es gab Zeiten da haben mich die Übergriffe der Fernsehzuschauer zur Flucht getrieben. Mittlerweile keimt jedoch sogar Freude auf. Ich bin also noch existent und noch nicht tot. Die Choreographie des Menüs lies sich nicht aufhalten. Ein großes Seezungenfilet über Blattspinat gelegt mit Salzkartoffeln lachte mich an. Nach einem Dessert ist mir nicht, es kommt aber trotzdem, denn es gehört zum Menü, eine Creme Chiboust mit Erdbeeren und anderen Beerchen.
Die Crème Chiboust erblickte Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris das Licht der Welt. Es ist eine Creme Pâtissière mit geschlagenem Eiweiß untergemischt. Der Konditor Auguste Julien Chiboust, der seinen Laden in der berühmten Rue Saint‑Honoré betrieb, kam so in die Geschichtsbücher. Ein doppelter Espresso passt gut dazu, und so sitze ich im Schatten der Kolonnaden und habe einen traumhaften Ausblick und hänge in meinem Korbsessel und widme mich etwas hirntot dem Verdauen. Ich döse genau an der Stelle an der früher Liegestühle aneinander reihten. Unter wärmenden Decken versuchten die Kranken ihre Lungen von Tuberkulosebakterien zu befreien. In den meisten Fällen war kein Segen auf der Frischluftkur und es kam häufig zu dem, was man in der Hotellerie eine kalte Abreise nennt.
Nun will ich weiter. „Wann fährt die Bahn?” und der Kellner antwortet flink “alle halbe Stunde”. Ich habe noch 10 Minuten und wandle Richtung Bahnstation, schaue mir das alles noch einmal an und muss sagen, der Betrieb wird wahrscheinlich nicht viel Gewinn machen, aber es ist eine Heldentat so ein Denkmal mit Gastronomie aufrecht zu erhalten.
Im VW-Bus ist eine Gluthitze schnell die Fenster runter und Fahrt gewinnen. Ich muss kurz überlegen wohin es überhaupt gehen soll? Auf alle Fälle in kühlere Regionen, also höher hinauf und so kommt mir das Bergdorf Bivio am Fuße des Julierpasses vors innere Auge. Als Wahlbergeller bin schon sehr oft durchgefahren. Diesesmal habe ich etwas Besonderes vor. In jungen Jahren war ich mal von der anderen Seite von Casaccia im Bergell, auch Val Bregaglia genannt, hinaufgestiegen auf den Septimerpass. Nun will ich den Aufstieg von Bivio wagen.
Am Ortsausgang von Bivio, an der beginnenden Julierstraße fand ich einen kleinen Platz, wo man sein Wohnmobil hinstellen kann. Zehn Franken fürs Auto und drei für mich. Ich steckte meine Claim ab und fuhr zum Abendessen die fünfhundert Meter in den Ort zum Hotel Post. Dort war ich schon öfter und wurde nie enttäuscht. Die Weinkarte hatte jede Menge gute Tropfen. Ich trinke immer das was in der Gegend wächst, also einen Graubündner Herrschaftswi. Der Name kommt von Bündner Herrschaft. Die Römer bauten hier schon Wein an und später dann der Adel, deshalb der Name. Hauptort der Herrschaft ist Maienfeld. Nicht nur der Name ist lieblich, sondern die Gegend ist ausnehmend schön. Man sieht die hohen Berge ist aber letztlich noch in warmer Region, auf dem Höhenniveau des Bodensees. Fährt man daran vorbei, ist man in fünfzehn Minuten in der Hauptstadt Chur. Ich wähle eine Malanser Spätlese Barrique 2022, Spätburgunder vom Weingut “von Salis” Maienfeld. Es ist wie bei mir zuhause, was die Winzer heutzutage für Spätburgunder ausbauen, das hätte man sich zu meiner Anfangszeit nicht ausdenken können. Viele davon können mit den Burgundern von der Côte d’Or konkurrieren. Capuns werden aufgetragen. Köstlich. Die Füllung erinnert an Semmelknödel und wie kleine Kissen sind sie mit Mangoldblättern um wickelt. Dass alles gut rutsch schwimmen sie in ein Steinpilzsauce. Ob der Wein zum Essen passt, darüber mache ich mir meistens keine Sorgen, ist das Essen so gut wie der Wein, dann passt für mich alles gut zusammen. So ist es auch mit dem Kalbsrückensteak “Café de Paris”, mit frisch und gekochtem Gemüse und das endlich mal nicht steinhart. Dazu gibt es Tajarin, fein geschnittene Nudeln, wie sie im Piemont üblich sind. Dessert verkneife ich mir, muss mit dem Zucker aufpassen. Ein doppelter Espresso beendet die Einmann-Party. Die Nacht im Campingbus war keine Gaudi, ich hätte es gerne etwas bequemer gehabt. Das Gefährt habe ich nun drei Jahre und dies war das zweite mal, dass ich mich einem nächtlichen Härtetest ausliefere. Camper werde ich wohl nie, da wirkt noch das Gezeter meiner Frau nach, die Camper hasste weil sie sich als Schutzpatronin der gehobenen Hotelerie fühlte. “Diese Leute sind die Feinde unseres Beruf!” Darin ähnelte sie etwas dem famosen Donald Trump, “Wer mit mir keinen Deal macht muss weg!”
So eng sehe ich das nicht, denn es gibt ja noch jede Menge Genießer, die nicht in ihrer Camping-Klaustrophobie am Gasherd schmoren wollen. Jeder soll auf seine Weise glücklich werden, es wäre schlimm, wenn alle das gleiche wollten. Womöglich morgen zum Septimerpass. Der nächste Morgen kam trotz allem und früh um acht hatte ich die Katzenwäsche hinter mir und fuhr wieder zum Hotel Post. Eigentlich wollte ich dort Frühstücken. Mein VW-Bus hat fließend Wasser. und auch zwei Gasflammen. Zu Kaffekochen war ich zu faul. und als ich vor dem Hotel meinen Elektroscooter aus dem Auto zerrte war ich so ungeduldig auf die Bergfahrt, dass ich gleich losfuhr. Man glaubt ja, ohne Kaffee käme man morgens nicht in die Gänge. Hat man keinen Kaffee kommt man trotzdem aus dem Tran. Von nun an gings bergan, unendlich, der steinige Weg wurde immer steiniger. Kurz vor dem Pass konnte man nicht mehr von Geröll reden sondern ich rumpelte über faustgroße Minifelsen.
Zu Elektroscootern muss ich noch etwas sagen. Billige Radelrutschen stehen in den Städten überall herum und viele werden von den Nutzen einfach in die Gegend geworfen. Die Dinger gehören verboten. Ohne Vorübung mit so etwas loszustarten ist äußerst leichtsinnig. Manche sind auch motorisch ungeschickt und fallen auch nüchtern auf die Nase. Mein Gerät ist sowieso nichts für Anfänger. Um so einen Schotterweg zu fahren braucht es viel Übung. Mein Teil ganz besonders. Die Höchstgeschwindigkeit endet bei 22 km/h. Das ist, wenn ich richtig steil wird schneller als man glaubt. Mein Gerät hat vier mal soviel Power wie ein E-Bike. Allrad, auf dem Vorderrad wie dem hinteren treiben jeweils 1000 Watt auch mich fetten Kerl jede Steigung hoch. Auch bei hausdachschräge lässt das Tempo nacht nach. Aber je näher ich dem Pass komme, um so mehr musste ich das Tempo drosseln. Wenn man überleben will, muss man wissen wo die eignen Grenzen sind.
Die Landschaft ist herrlich, die Ruhe unglaublich und so mache öfter mal Pause, und lausche den Pfiffen der Murmeltiere. Vor 2000 Jahren nahmen die Römer, vom Comer See kommend diesen Pass und wunderten sich bestimmt über die dauernde Pfeiferei. Kein Mensch weit und breit. Kurz vor dem Ziel, dem Bergsattel drehte ich um. Handyempfang gab es keinen mehr und mit einem unglücklichen Sturz kämen manche Probleme auf mich zu. Macht man solche Abenteuer, ist es gut zu wissen, dass jeder Handy, jedenfalls mein I-Phone, einen Notruf hat der auch funktioniert wenn kein Netz vorhanden. Dieser Notruf geht über Satellit, was die wenigsten wissen. Zurück fuhr ich vorsichtiger als hinauf. Erfahrung und Vorsicht standen mir zur Seite und gegen zehn Uhr vormittags war mein Vehikel wieder im VW-Bus. Im Auto abermals eine Bullenhitze das sich mein Kopf anfühlte wie ein gekochtes Ei. Also nichts wie hinauf zum Julierpass. Im Hinterkopf hatte ich den Besuch meines Kraftortes, dem Frauenkloster St. Johann in Müstair, in der rätoromanischen Spache der Einheimischen “Claustra Son Jon”. Die Fahrt geht über Sankt Moritz, das ich ganz schrecklich finde und mich nur wenige male zu einem Halt animiert hat. Es geht danach das schöne Unterengadin hinunter nach Zernez und dort abbiegend über den Ofenpass ins Münstertal.
PS: Morgen schreibe ich weiter.
- Dort will ich hin, unterhalb der Sonne ist irgendwo der Passübergang.
- Kurz vor dem Pass drehte ich um. Der steinige Weg hat mich so durchgeschüttelt, dass ich ganz deppert wurde.