Liebe Laura, ich wollte Dir mal etwas aus meiner Jugendzeit erzählen.
Ernte in Zipplingen
Wie gelähmt stand ich da und sah an mir hinunter. An der speckigen Lederhose, an den Schenkeln entlang, die an Haselnussstecken erinnerten, vorbei am aufgerissenen Knie kullerte ein Rinnsal, das sich in seltsame Stiefeletten ergoss, die alten Schnürstiefel meines größeren Bruders, die ihm zu klein geworden waren und auch mir schon unerträglich drückten. Ich hatte mal wieder in die Hose gepinkelt. Zwar gab es Büsche und Bäume, Winkel hinter dem Stall, der Scheuer oder der Hufschmiede, jede Menge Gelegenheit zum ungestörten Pissen, doch ich war als Vierjähriger noch längst nicht stubenrein. Die Kunst des männlichen Wasserlassens, diese deutsch-maskuline Hauptdisziplin, hatte ich noch nicht intus.
An jeder Ecke, gern auch auf freier Strecke zeigt der Germane gerne was er hat, da ist er noch so richtig eigeninitiativ, ein echter Steher. Für mich jedoch noch kein Gedanke daran. Ich hatte gute Gründe, mein Pipi bei mir zu behalten. Die Toilette beim Hufschmied und Bauern Oettle in Zipplingen war nämlich keine Toilette, sondern ein Scheißhaus rustikalsten Zuschnitts. Aus heutiger Sicht zwar höchst ökologisch, aber nicht gerade komfortabel. Unter dem Schweinestall waberte schwarz vor Fliegen die Jauchegrube, und knapp daneben residierte der Notdürftige auf einer Holzkiste mit Loch. Panische Angst schüttelte mich, in diesen Orkus hineinzufallen. Auf der ausgesägten Öffnung hockend, hatte man nicht nur mit dem pestilenzschwärenden Odeur von unten zu tun: auch von der Horizontalen her drohte Horror. Zwar trennte mich ein angenagter Bretterzaun von den Säuen, aber diese machten sich einen Jux daraus, nach mir zu schnappen und ihre Kiefer wild ins Holz zu schrappen. Die Schweinsäuglein funkelten wild, als wollten sie mit Türspionen auf mich schießen. Wie Zweibeiner, hochgestellt auf den Hinterklauen, standen sie an der Brüstung und wollten zu mir übersetzen. Sie fuchtelten mit den Vorderläufen, um meine Nase zu erwischen. Damals erfuhr ich, dass Schweine keinen Mundgeruch haben. Ich hatte wenig Chance, den üblen Spielchen der Borstentiere zu entkommen. Sollte ich mich an der Nase packen lassen, ausgerechnet von diesen Viechern, die ich ungefähr so vertrauenerweckend wie feuerspeiende Drachen empfand, oder ins höllenartige Kackloch fallen? Der grunzende Lärm, die Nasenfolter waren geradezu infernalisch. Kurzum, die sanitären Verhältnisse waren nicht so beschaffen, dass die Inkontinenz eines Vierjährigen die Besserung zum Trockenbiotop erfahren hätte.
Ins ländliche Gulag wurde ich häufig verfrachtet, da waren noch einige Geschwister und Mutter war froh, wenn sie den einen oder anderen Balg irgendwohin packen konnte. Klein-Vincent, Angsthase, rachitisch blauädrig, durchsichtig und mager wie ein angeknabberter Fruchtzwerg, sollte nach dem Willen seiner Eltern offensichtlich zu einem harten Typen gebogen werden: der Bauernhof als Trainingscamp. Scheuer, Viehstall, die Wohnung daneben und gegenüber die Schmiede – ein schön arrondiertes Anwesen war das, am Rande des Ries, der Gegend um Nördlingen. Eine stille Landschaft, berühmt für Gänse, langer her, dass einmal ein Meteorit die Einöde auf vierzig Kilometer kreisrund eingedellt hatte.
Das Landleben brach mit ähnlicher Vehemenz über mich herein. Hart wurde ich nie, später dann immerhin recht schwer, was damals jedoch überhaupt nicht zu ahnen war. Aber hart wie Kruppstahl? Fehlanzeige.
Der deutsche Mann hatte den Krieg verloren. Die Erziehung der Adenauerzeit zielte jedoch offensichtlich darauf ab, dass er bald wieder so instandgesetzt werde, um einen neuen zu beginnen. Als Sechsjähriger war ich immerhin aus der schlimmsten Heul- und Memmenphase heraus. Zum Frühstück durfte ich schon Milchkaffee trinken, die gleiche Sorte wie Bauer Josef, Kathreiners Malzkaffee. In riesigen Schalen kam er zu Tisch und der Hefezopf wurde hineingebrockt. Das hatte Qualität und gab Kraft. Ich hatte die nicht so nötig, aber der Bauer, die Bäuerin Theres und die Magd. Frühmorgens hatte Josef noch einige Pferde beschlagen, er war schließlich der Dorfschmied. Ich war fasziniert von den stiebenden Funken und auch von den Gerüchen verbrannten Horns.
Während der Ernte blieb für diese Verrichtungen nicht viel Zeit. Es war Herbst und das Korn musste geschnitten werden. Wichtigste Hilfe war das Ross. Es hieß Flintkaß und wurde gepflegt, wie man heute die Stoßstangen poliert, denn es stellte einen großen Wert dar. Unzählige Maschinen konnte man dem Tier anhängen – vom Pflug über die Egge, Mähmaschine, Heuwender, selbst Ährenbündler gab es . Als Basisequipment war aber damals die Mähmaschine schon der totale Fortschritt. Damit zog das Tier seine Bahnen. Das Korn fiel in exakter Reihe und die Frauen bündelten die Ähren mit Garbenschnüren.
Erntezeit, die ganze Verwandtschaft war angereist, um zu helfen. Es war ein Wettlauf mit dem Wetter, und ich erinnere mich noch der schwarzen Wolken, die sich über Schloss Baldern zusammenklumpten. Eine Wand mit Blitzen zerhackend, kam das Unwetter auf uns zu wie eine überdimensionale Wagnerkulisse. Ein letzter Wagen musste so schnell wie möglich beladen werden; keine Zeit mehr, um das Korn auf zwei Fuhren verteilt in die Scheune zu bringen. Die Männer brüllten, das Pferd wieherte und nahm die Unruhe der Menschen auf. Die Weiber arbeiteten still und hektisch, trauten sich gar nichts zu sagen. Auf den Wagen wurde getürmt, was die Achsen hielten, er setzte sich quietschend in Bewegung und Josef drosch auf den Gaul ein. Der fast haushoch beladene Holzwagen taumelte eine Böschung hinab: Genremaler der Romantik hätten nach ihren Pinseln geschrien. Ich trabte mit, die Erntehelfer stolperten hintendrein, nach Atem ringend. Ich hüpfte auf die Deichsel. Bauer Josef war ein stiller Mensch, heute nicht. Ich wurde angeschnauzt und sprang wieder ab. Genau im rechten Moment. Ratternd ging es durch eine Senke, ein großes Schlagloch brachte den Karren ins Wanken.
Er fiel nicht gleich um. In gebremster Fahrt pendelte er heroisch, als stemme er sich gegen die Gravitationsgesetze, mal nach rechts, mal nach link, immer heftiger, und dann: Das Pferd wieherte und bäumte sich auf, der Bauer schwang die Peitsche und schrie gemeine Flüche. Das eisenbereifte Gefährt kapitulierte und neigte sich knarzend, schleppend, wie ein sterbendes Tier. Fast glaubte ich, es stöhnen zu hören, es legte sich immer mehr zur Seite, kapitulierend, wollte nicht mehr. War der Wagen zuerst langsam aus dem Gleichgewicht geraten, so stürzte er den letzten Meter mit satter Wucht endgültig auf die Flanke, als wollte er sagen: Schnauze voll, ich steh‘ nie mehr auf. Mir wurde zugerufen, zum Bauernhof zu rennen und den Rest der Verwandtschaft zu mobilisieren. Auf mich kam es an, ich rannte in stolzem Bewusstsein, dass ich die Katastrophe aufhalten konnte, die Ernte retten. Die Lungen brannten, Seitenstechen plagten mich, aber ich konnte in weniger als fünf Minuten meine Botschaft bei den Dreschern in der Scheune absetzen.
Vollkommen aus der Puste verharrte ich und wartete auf friedlichere Zeiten. Irgendwann kam der Wagen in Sicht. Schwere Tropfen fielen. Das Gefährt wurde mit Karacho durchs Scheunentor laviert. Das geschnittene Korn war in Sicherheit, der Wagen in der Scheune. Die feuchten obersten Garben wurden aussortiert, um sie anderntags im Hof als Garbenmännchen zum Trocknen aufzustellen. Die Stimmung der Beteiligten war irgendwie errettet froh, aber ein umgestürzter Wagen war eine gewissen Hypothek. Das bedeute unter diesen abergläubischen Menschen kein gutes Omen. Auf alle Fälle galt dies Malheur als Hinweis auf des Bauern Geiz. Dabei stimmte das ganz und gar nicht, man war zwar sparsam, aber es gab immer einfaches, aber sehr gutes Essen.
Bauer Josef warf mit etwas bekümmertem Gesicht die Garben in die Dreschmaschine. Die Aufregung hatte ihm zugesetzt, wohl kaum die Vorahnung, die Verwandtschaft beim sonntäglichen Kirchweihfest in Bopfingen, dem nächsten größeren Ort, noch freigiebiger als sonst verköstigen zu müssen.
Die Maschine faszinierte mich. Den Lärm, der aus den Tiefen des Ungetüms kam, konnte meiner Ansicht nach nur Kobolden verursachen, die in den Eingeweiden der Maschine in Streit geraten waren. Die Drescher hielten mit schwarzen Gesichtern die Maschine in Gang und arbeiteten in dichtem Nebel falben Staubs. Die Frauen knoteten die Garben auf und Josef warf sie in den Schlund, als gelte es, ein gefräßiges Tier zu füttern. Hinten ergossen sich die Körner auf einen Haufen. Mit einer Schaufel wurde die Ernte in Säcke gefüllt. Das Korn war trocken, von guter Beschaffenheit, nicht schimmlig oder sonstwie fehlfarben wie in den letzten zwei Jahren. In Reihen protzten die Säcke wie eine militärische Abordnung dicker Männer. Das beutete pures Geld. Am Abend wurde durchgezählt – erst dann war klar, ob der Erntetag ergiebig gewesen war und ob sich die Plackerei das Jahr über rentiert hatte.
Es war Oktober, das Schwein geschlachtet, die Würste hingen im Rauchfang, und die Kartoffeln füllten den Keller. Der Garten war abgeerntet, die gelben Rüben und die Sellerieknollen in Sand eingeschlagen. Birnen und Äpfel reiften auf roh gezimmerten Holzetagen. Kraut war eingehobelt und in Holzbottichen mit Steinen beschwert worden. In Zubern gärten die Zwetschgen. Es war geschafft, alles unter Dach und Fach. Einen Kühlschrank oder gar eine Tiefkühltruhe hatten die Leute in der Stadt, hier war man noch nicht soweit. manches war vom Verderb bedroht und die Kochkünste zielten hauptsächlich darauf ab, die Lebensmittel über die Zeit zu retten. Da wurde eingedünstet, eingesalzen, luftgetrocknet und vor allen Dingen mehr gevespert als übers restliche Jahr hinweg.
Es waren die üppigsten Monate, aber die Gedanken an den Winter, über Generationen gefestigt, beeinflussten sicher das hamsterartige Verhalten der Landbewohner. War die Ernte mager ausgefallen, so konnte es in der dunklen Jahreszeit sehr karg werden. Auf der schwäbischen Alb war vor noch nicht einmal hundertfünfzig Jahren die Nahrung im Januar so knapp, dass es die Leute auf die verschneite Hochflächen trieb, um an die Vorräte der Mäuse zu kommen. Man folgte den Spuren im Schnee bis zum Mauseloch, um dieses dann auszugraben und so an die paar Körner im Nest der Nager zu gelangen. Angesichts drohenden Mangels kann man die Dankbarkeit der Bauern nachempfinden, wenn Scheune und Keller gut gefüllt waren.
Trotz härtester Arbeit waren Erfolge nie gesichert. Missernten oft unerklärbar. Ohnmächtig musste wochenlanger Regen hingenommen werden. Der Bauer schritt sein Feld ab, und bestimmt nicht mit einem Gedicht von Peter Rosegger auf den Lippen: fluchend sah er zu, wie ihm die Ernte zusammenschimmelte. Aus dieser Tradition kann man verstehen, dass der Landwirt heute zwar auch noch an Gott glaubt, aber erst, nachdem er die Seelsorge vom Pharmavertreter empfangen hat. Gott ist längst nicht so zuverlässig wie die ambulante Agrarchemie.
Von Nitrophoska-Blau hatte die Bäuerin Theres damals noch nichts gehört. Jesus war der Chef im Ring. Ich hüpfte neben dem Leiterwagen einher. Theres, gebeugt und von der Arbeit schlank, zäh und mit steter Melancholie in den Augen, immer in Schwarz, Bluse wie Rock, zog befriedigt Richtung Kirchberg. Viktualien wurden zum Mesner gekarrt. Jeder Bauer gab dem Pfarrer etwas zur Ausschmückung des Altars. Wir hatten Korngarben auf der Karre, sauber geschrubbte Futterrüben, einige Brotlaibe, von frischem Mehl gebacken. Eine Seite Speck war auch geladen. Es war der Speck vom Frühjahr, den man, nachdem die Kirchweihsau zerlegt war, gern als Kirchenopfer gab. Kürbisse zierten den Altar, Korngarben und Blumen schmückten die geweihten Räume ebenso. Auf Rüben war eigentlich gepfiffen, dem Pfarrer war Speck wichtig, denn der ging nach den kirchlichen Festivitäten direkt in seine Speisekammer, und wehe, es war kein Fläschchen Schnaps dabei. Da wurde dann in der Predigt auch mal gamault und den Landmännern die geizigen Köpfe zurechtgestoßen.
Erster Ostersonntag, Erntedankfest in Zipplingen, lateinische Rezitative, eine Woche nach Michaelis. Ich war schon zeitig zur barocken Kirche mit ihrem Zwiebelturm gelaufen, die inmitten des flachen grünen Ries auf einer der seltenen Anhöhen stand.
Mir ging es nicht um den Gottesdienst, sondern ums Glockenläuten. Die großen Buben der Dorfjugend rauften sich regelrecht darum. Da durfte nicht jeder ran. Der Pfarrer suchte die geeigneten Kerle aus. Drei Buben, jeder hing am Glockenseil. oben wummerten die bronzenen Ungetüme, unten im Turm wackelten buchstäblich die Wände. Die Glocken zogen die Seile beim Auspendeln mehr als drei Meter in die Höhe – wer dran ging, hatte die reinste Kirmesfreude. Auf und ab ging es, wie bei der Achterbahn. Drinnen rumorten alsbald lateinische Rezitative, das Hochamt dehnte sich über zwei Stunden. Die Ministranten schwangen das Weihrauchfass, das feinzisilierte Gerät immer am Glühen. Im dichten Qualm wurde mir bald schlecht. Das war mir schon peinlich. Das Land, die Natur liebt die Schwachen nicht. Ich war ein verdammter Schwächling, ließ mir aber, so gut es ging, nichts anmerken. Irgendjemand schaffte mich an die frische Luft. Es war nun schon elf Uhr, später Morgen und niemand hatte gefrühstückt, denn die Kommunion kann ja nur auf nüchternen Magen empfangen werden. Ich hatte ja große Lust auf so ein Gutzle gehabt, war aber noch Jahre davon entfernt.
Später in der Bauernstube wurde dann das Defizit schnell ausgeglichen. Die ganze Blase saß um einen Tisch. Theres, die Magd und die weibliche Verwandtschaft hatten schon morgens um halb acht mit der Kocherei begonnen. In der Küche war der gemauerte Backofen am Bullern, im Herd knisterte das Holz. Im Schiff, einem im Holzherd eingelassenen Warmhaltebassin, stand der hohe Topf mit der Fleischbrühe und den Klößchen drin. Wichtig war, dass mehr Fettaugen rausguckten als später dann über den Tellern hingen. Also Klößchensuppe mit Schnittlauch, gemischter Braten von Kalb, Rind und Schwein. Agathe, die Haushälterin meines Opas, schabte den letzten Teig aus der Spätzleschüssel und schnitt ihn auf einem uralten Brettchen ins kochende Wasser.
Kartoffelsalat wurde in die Stube getragen, und ich fing gleich an zu naschen. Das waren Qualen, mit Hungerkrämpfen auf die Suppe warten zu müssen! Ich bekam eins auf die Pfoten, denn es war noch nicht gebetet worden. Theres stimmte den Singsang an, ein Ritual, das mich zunächst fast peinlich berührte. Eine Art schlechtes Gewissen überkam mich, weil ich angesichts von Kartoffelsalat den lieben Gott vergessen hatte. Das Landvolk war mit Gott enger verbandelt, hatte in Einzelheiten miterlebt, wie alles wuchs – auch oft erlebt, wie alles wieder verdarb – und freute sich nun über das, was auf dem Teller lag, freute sich im Wissen um die Arbeit darum. Seltsam jedoch, kein Gedanke daran, dass man um die geschlachteten Tiere hätte trauern können, obwohl man mit Schwein, Kalb und Rind viele Monate gemeinsam verbracht und die Tiere beim Namen gekannt hatte.
Man aß schweigend, in Erfüllung langer Vorfreude. Außer gerauchtem Speck hatte keiner der Anwesenden die letzten vierzehn Tage Fleisch in den Magen bekommen. Schlachtfeste haben es an sich, dass doch nicht alles konserviert werden kann, nicht alles in den Rauchfang gehängt, in Pökellake versenkt, in Dosen abgekocht wird. Es blieb genug übrig, um jeden Tag ein kleines Fest zu bereiten und sozusagen gegen den Verderb anzuessen.
Die Frauen machten zusammen den Abwasch, und die Männer saßen draußen vor dem Haus auf der Holzbank. Mit dem dumpf sedierten Blick des Überfressenen blinzelten sie in die Sonne und verdauten still vor sich hin, sammelten Kraft fürs Fest. Der laue Wind fächelte Marschmusik zu uns herauf. Klänge der Verlockung, und als die Frauen mit roten Händen und ebensolchen Backen vor uns standen, kontrollierte Josef den Geldbeutel, so dass es alle sehen konnten. Jetzt war der Bauer dran, unten am Dorfplatz einige Biere zu spendieren. Die Kapelle blies, was die Lungen hergeben, und mit großen Augen bestaunte ich die schwingenden Dirndlröcke und die jauchzenden Tänzer. Eine Bluna hatte ich in der Hand, die erste Limo seit Monaten, denn zuhause gab es immer den grauslichen Johannisbeersaft, sauer wie Essig und trüb wie Schlammkreide. Mein Fest hieß Bluna – und zuschauen, wie sich die Dorfdeppen den letzten Rest von Hirn mit Weizenbier auswuschen.
Betrunkene gab es hier genug. Einige Meter von mir entfernt hatte ein Ungetüm von Mannsbild einen Kameraden im Schwitzkasten, drumherum standen Kerle und brüllten vor Lachen. Für mich eine seltsame Welt. Mir war aber bereits bekannt, dass die gewalttätige Heiterkeit irgendwie mit dem Bier zusammenhing. Da sah ich ihn dann, einen Mann mit einer Nase die rot war, als wollte sie explodieren. Er versuchte aufzustehen, krachte dann aber wieder mit breitem Gesäß auf die Holzbank und kippte fast hintenüber. Der Maßkrug fiel um. Der Mann war aber gerade mit seinen Händen unterm Tisch zugange. Dann rauschte ein Bächlein auf mich zu.
Erst viel später sollte ich von der urdeutschen Sitte des Harnens unter Biertischen hören. Wer München besucht, dem empfehle ich, auch wenn er nicht japanisch spricht, sich das Hofbräuhaus anzugucken. Der traditionsschwangere Boden dort ist wie der eines Viehstalls konstruiert: Unter den Tischen verlaufen die Pissrinnen – daher auch der Ausdruck Bierschwemme. Damals wusste ich davon jedoch noch nichts. Meine Bluna umklammernd, floh ich vor den Fluten. Bloß weg hier, dachte ich, manche werden ja nie erwachsen!
(mittlerweile hat das Hofbräuhaus einen neuen glatten Boden.)