Francesco Petrarca (1304-1374), der große Dichter der Renaissance, widmete seine Gedichte Laura de Noves. Große Liebe, dann auch Feindin und wieder Liebe.
Ich folge ihm nach und richte meine Gedanken und Erlebnisse in Briefform an eine fiktive Laura. Sie ist etwas ganz Besonderes, denn sie steht stellvertretend für meine Leserinnen und Leser.
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Winterreise 2024
Um einen Bericht über Hermann Buhl, und abgeschlossen mit einer Fresserei bei Chiavenna. 24.1.2024
von Vincent Klink | Briefe an Laura
Aus dem Alpentryptichon (Vita) von den Höhen Soglios aus gemalt. Giovanni Segantini (1858-1899) verehre ich. In deser ersten Reisebeschreibung widme ich mich jedoch ganz dem Dichter Rainer Maria Rilke. Über die Kunst im Bergeller Tal, also über Segantini, die Familie Giacometti und den grandiosen Maler Varlin werde ich separat schreiben, denn es gibt darüber auch viel zu berichten.
Liebe Laura, ich will dir berichten von meiner Weihnachtsausfahrt mit Eva an den schönsten Flecken der Welt. Das ist nun eine sehr subjektive Aussage, denn überall und ungebeten gibt es das beste Schnitzel der Welt, die beste und schönste Stadt der Welt, die schönste Frau. Das alles sind Aussagen und Feststellungen die Gültigkeit haben, bis noch etwas Schöneres kommt oder so genannt wird.
Ich will dir berichten von Frau Evas Gespür für Schnee und die Sehnsucht danach. Meiner durchaus aktiven Hinterlist zu dienen, empfahl ich ihr die Schweizer Gebirgsregion, das Engadin. So konnte ich meine eigenen Reisewünsche in die ihren hineinschmuggeln. Meine zweite Heimat ist das Bergell, das sich westlich ans Engadin in Richtung Comer See anschließt, ein tiefes faszinierendes Tal mit berühmten Kletterbergen bis über dreitausend Meter.
Wer das Engadin noch nicht kennengelernt hat, der leidet, ohne es zu wissen, an einer Mangelerscheinung. Der Schriftsteller und Nobelpreisträger Hermann Hesse, zwar ein Schwärmer, hatte oft nicht recht, aber dieses mal schon. Er war begeistert vom Oberengadin. Ja, es gibt auch noch im Osten ein Unterengadin, insgesamt meinte er: “Gesehen habe ich viele Landschaften und gefallen haben mir beinahe alle,… und wohl die schönste, am stärksten auf mich wirkende von diesen Landschaften ist das Obere Engadin.”
Also nichts wie hin. Von Stuttgart her, neben mir Eva, drücke ich unseren VW-Bus bei Bregenz am Bodensee vorbei. Das Auto schnurrt dahin. Die Schnellstraße teilt sich, geradeaus sehen ich die ansteigenden Wälder und Wiesenmatten von Sargans. Rechts kurvt die Autobahn nach Zürich und links herum bin ich in wenigen Minuten auf der Höhe von Bad Ragaz. Irgendwo grüßt eine große Tafel “Willkommen im Heidiland”.
Gegenüber leuchten in winterlicher Vormittagssonne die Weinberge der “Bündner Herrschaft”. Der Name kommt aus den Anfängen des schweizerischen Staatsgebildes. Die Gegend war von den drei Bünden beherrscht, dem Grauen Bund (deshalb Graubünden), mit der Hauptstadt Chur und den Gerichtsorten Maienfeld und Malans. Der Gotteshausbund liegt etwas südlich an der italienischen Grenze, die am Reschenpass entlang führt. Den Zehngerichtebund könnte man der Passlandschaft Davos und Klosters zuordnen. Die drei Bünde liegen nahe beieinander, greifen sogar ineinander, je nach Ortschaft. Im Zentrum liegt die “Herrschaft”. Das ist nun sehr grob geordnet und ein Schweizer Erbsenzähler (Nationaltugend, wie Nationalkrankheit) wird mich sicher zurechtweisen. Die umliegenden Orstnamen der “Herrschaft” klingeln mir in den Ohren. Unter klarblauem Himmel reiht sich Fläsch, Jenins, Malans, Zitzers und wie gesagt Maienfeld. Wer durch diese Orte spaziert, verliert jeden Bezug an die heute oft als bedrohlich empfundene Welt. Hier fände man das knarzfreie Scharnier um die Welt zu vergessen. Elysische Empfindungen sprießen zusätzlich wenn man sich die Weine in sein Inneres rinnen lässt, dorthin wo die Seele sitzt. Die Spätburgunder dieser Weingegend hatten es mir vor vielen Jahren schon angetan. Führt man diese Stimulanzien, allesamt nicht billig, aber ihr Geld wert, mit gefülltem Glas an die Lippen, so trinkt der Schweizer und andere Unwürdige wie ich, einen “Herrschaftswi”, eine grandiose Qualität mit tiefer Tradition.
Alles klar, wir sind im Kanton Graubünden mit den Ukrainerfarben Gelb und Blau im Wappen, und damit nichts verwechselt wird ist die Hälfte des Wappenschildes mit einem Steinbock abgesegnet. Ich reise also im Revier des Steinbocks, einem äußerst robustem Getier mit einer betonharten Stirn, aus dem sich gewaltige Hörner winden. Es gibt Leute die behaupten diese dicke Stirn hätte sich auf auf die Bündner übertragen. Und wirklich, der Bündner hat mit dem Flachlandzürcher wenig gemein. Ganz klar ist es ein Vorurteil, aber ein bisschen ist schon was dran. Ich liebe die Schweizer, weil ich einen pathologischen Hang zu Ordung und zu genau tickenden Uhren habe. Der Schweizer allerdings, der mindestens über 800 Höhenmeter siedelt, den mag ich besonders und mit jedem steigenden Meter nimmt der Respekt vor diesen Leuten zu.
Es ist nun Mittag und Eva ist von der gleichen Fraktion wie ich. Ob Hunger oder nicht, die Uhrzeit bestimmt wann Pause gemacht werden muss. Das “Hotel Stern” in Chur legt sich in den Weg. Die Bischofsstadt mit der romanischen Kathedrale, war schon bei meinen Eltern eine Zäsur bei der Anfahrt ins Gebirge. Eva hatte vorsorglich in diesem Traditionshotel einen Tisch reserviert. In Restaurtants in denen sich Hipster feiern, egal wieviele Michelinsterne sie eingeheimst haben, dort bekommt man leicht einen freien Tisch, nicht aber im “Stern”. Überall wo traditionell handwerklich gut gekocht wird sind freie Plätze rar. Das ist auch in und um Stuttgart so. Wer kochen kann und seine Gäste nicht als Versuchkaninchen mißbraucht, hat immer die Bude voll. Wobei es angezeigt ist, dass sich der Koch nicht selbst aufs Treppchen stellt und dies auch nicht den Journalisten oder den Medien überlässt, sondern sich an seinen Gästen orientiert. Das Bündner “Hotel Stern” hat seine Speisekarte im Können und in der Tradition eingepfockt. Es pflegt die Bündner Küche, es ist Montagmittag, und trotzdem ist das gemütlich-getäferte Restaurant voll, jedoch unser Tisch noch frei.
Ersteinmal zwei Stützbier und danach eine Flasche Donatsch, Pinot Blanc (Malans). Die Flasche kommt in einen Eiskübel. Nüsslisalat, so sagt man hier, aber auch im Badischen zum winterlichem Ackersalat. Danach folgt eine Trilogie von Bündner Speise-Ikonen: Maluns, dicke Krümel aus Kartoffeln, der Name geht auf “Miule” zurück, der altromanischen Bezeichnung für Brotkrümel. Pizzoccheri Neri sind dicke Buchweizennudeln mit Käse, ebenfalls eine gewaltige Artillerie von Kalorien. Mein Bündner Lieblingsgericht nennt sich Capuns Sursilvans, kleine Mangoldwickel in Bechamelsauce mit Käse, Speckwürfelchen und in Sahne eingeweichtem Brot gefüllt. Von allem kriegt der Magen nix, alles geht ungebremst in die Hüften. Letzteres Bündner Lieblingsessen wird von mir komplett verspeist, die anderen beiden Nationalgerichte sind nicht so recht mein Ding. Das liegt auch an mir. In jungen Jahren konnte ich reinhauen wie ein Scheunendrescher und machte mich über Seniorenteller lustig. Mittlerweile bin ich demütig. Der Service funktioniert wie ein Uhrwerk bei bester Pflege. Eine Stunde später, nach der Verdauungshilfe des Weins rollen wir weiter auf die Berge zu. Deren Spitzen, weißgehöht vom weihnachtlichen Schnee lassen mich instinktiv die Heizung höher drehen. Um uns hier herunten, Eva und der Meinige, ist alles braun und genauso depri wie in Stuttgart. Diesen eingebräuneltem Aussichten zu entkommen, das ist unser Plan. Aus graugrün, gestorbener Natur führt nun die Straße über den Julierpass in gleißenden Schnee. Die Helligkeit erfreut das Auge. Mir sagte mal jemand, dass Helligkeit jede Menge Glückshormone freisetzt. So ist es, ich liebe den Schnee genauso wie Eva, auch deshalb weil er weitgehend die Hässlichkeiten, den Schmutz und jegliches Zivilisations-Gerümpel gnädig zudeckt. Nach der Passhöhe des Julier von 2284 m, mäandert die Straße nach Champfér und Sankt Moritz hinab. Letzterer Nobelort ist architektonisch unglaublich verschandelt aber unter der Camouflage des Schnees einigermaßen zu erleiden. Im Sommer zieht mich der Ort in Depressionen, allein schon wegen der vielen chirurgisch-optimierten Gesichter. Verdammt noch mal, muss denn wirklich alles optimiert sein. Da bin ich doch froh, dass wegen meiner Stadtstreicher-Klamotten manch Artgenosse mich gnädig übersieht. Nichts wie weiter und nach zwanzig Minuten sind wir in Sils Baseglia, direkt an der Hauptstraße nach Chiavenna das am Talende bereits in Italien liegt. Am Silser See führt die schmale Straße entlang, vor uns zittert ein ängstlicher Campingfreund seine Bettstatt um die Kurven, aber in Geduld bin ich durch jahreslanges Training gut geübt. Von weitem ist nun der Turm von St. Lurench (Lorenz) zu sehen. Das Kirchlein hockt gleich neben dem jungfräulichen Inn. Dieser sprudelt vom nahegelegenen Piz Lunghin herab und ist eigentlich nur ein reichlich wasserführender Bach. Um die Kirche herum schlittern wir auf Sils Maria zu, bis uns eine Schranke zur Umkehr zwingt. Wir müssen zurück und die direkte Straße nach Sils Maria nehmen, hinein in eine offensichtlich verkehrsberuhigte Sackgasse.
Hier im verschlafenen Sils Maria kann man das Gegenteil von Sankt Moritz erleben. Keine Events, keine Showpeople, keine Blödsinnsläden mit Guccitaschen. Wir fahren auf das “Hotel Edelweiss” zu. Links und rechts gut situierte Spaziergänger, die alle etwas gemein haben, nämlich keiner schaut doof aus der Wäsche. Das Publikum wirkt gediegen und selbstsicher, sozusagen schuldenfrei, was man von den Ferrarifahrern in St. Moritz nicht immer behaupten kann.
In Sils war ich bereits als Bub mit meinem Vater, und später mit meiner Frau öfters zu Gast. Es ist nicht nur der meist sonnige Himmel, der Ort atmet auch eine, übertrieben gesagt, philosophische Stimmung. Das mag auch an den ehemaligen Gästen dieses kleinen Dorf liegen. Wir wohnen gleich neben dem Nietzschehaus hinter dem sich ein steiler Tannenwald zum Fextal im Himmel verliert.
Über allem, monumental und riesig, ragt das Grandhotel Waldhaus empor. Es ist ein Kulturdenkmal aus der “Belle Epoque”, 1908 erbaut und immer noch privat von der Familie Kienberger geführt. Hermann Hesse holte sich hier mentale Stabilität. Besuchte er Sils, so logierte grundsätzlich im Grandhotel Waldhaus, wie auch Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch Albert Einstein, der Schriftsteller Alberto Moravia, der Filmregisseur Claude Chabrol. Kurt Tucholsky und auch Max Frisch und Thomas Mann weilten hier. Thomas Bernhardt kommt mir gerade in den Sinn, in seinem Stück “Der Theatermacher” zeigt er den eitlen Protagonisten Bruscon und lässt ihn mit einem sehnsüchtigen “Ach-Sils” verröcheln. Vincent Klink gab sich im Waldhaus iauch schonw mal die Ehre, dies zu einer Zeit als ihm noch nicht der Altersgeiz an die Gurgel ging.
An den Wolken kratzend, das “Waldhaus”, ein wirklich nettes Häuschen.
Zarathustras Rundgesang
O Mensch! Gib Acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
»Ich schlief, ich schlief –,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!«
Friedrich Nietzsche besuchte das Häuschen neben dem Hotel Edelweiss viele Male als Sommersvakanz. Damals wurde es als Personalhaus des Hotels geführt, und ich denke, dass der Philosoph dort preiswert wohnen konnte. Heute ist es ein kleines Museum mit sehr interessanten Artefakten und Handschriften. Es gibt auch die Möglichkeit, dass Interessierte, Studenten oder Wissenschaftler oder einfach Nietzsche-Fans dort übernachten können. Dies zu einem für die Schweiz günstigen Preis, ich glaube es sind ungefähr 80 €.
In Sils Maria tapst man immer in einer guten Spur. Am 24. Juli 1919 war Rilke nach Sils aufgebrochen, in einem kleinen Automobil auf dem Weg ins Bergell, von St. Moritz bei Regen, scharfer Kälte und mit einem geübten Chauffeur. Frierend, trotz Alexander Sacharows, einem befreundeten Balletttänzers gutem russischen Pelz, reklamierte der Dichter, “der Pelz, den mich ein Schutzengel mitnehmen ließ”. Davon und mehr erfährt man von Rudolf von Salis in seinem Buch “Rainer Maria Rilkes Schweizer Jahre”. Dieser Monseigneur Salis, Historiker und Philologe, verfügte über intime Kenntnisse und unveröffentlichte Materialien über den Poeten, die sein Buch für mich zu einer Fundgrube des Wissens machte. Wenn ich komplett zurückdividiere, so ist es ihm zu verdanken, dass ich heute sagen kann, das Bergell ist meine zweite Heimat. Davon irgendwann einmal mehr, das wird aber womöglich ein anderes, dickes Buch.
Sils ohne Rainer Maria Rilke kann man sich kaum vorstellen. Der sensible Nomade, darf eigentlich nicht fehlen. Er bog 1919 aber nicht nach Sils Maria ab, sondern nahm die nächste Brücke über den Inn, nach Sils Baseglia. Sein Chauffeur ließ mit seinem Gefährt die Kirche San Lurench (Lorenz) beiseite und steuerte zum “Hotel Margna”, das es heute noch gibt. Dort verbrachte ich, schon wieder auf den Spuren Rilkes, mit Gattin Elisabeth und Eva, vor dreißig Jahren die Weihnachten. Mittlerweile kann ich dort aber nicht mehr einkehren. Überhaupt sollte man an geliebte alte Orte nur mit Bedacht zurückkehren, meistens wurden die schönen Erinnerung auf krudeste Weise niedergetreten. Oft haben rationalisierungsbewußte und zweckorientierte Unternehmer die Geschicke des Hauses übernommen. Es wird modernisiert, handwerklich alte Qualität rausgerissen und oftmals, auch unter Hilfe von Baumarkt-Deko, alles, “proudly presents”, auf den Geschmack von Dubai-Reisenden erniedrigt. Na ja, diese Leute haben das Geld, aber oft keinerlei Nähe zu Traditionskultur.
Sils Baseglia (Basilika) ist der ältere Teil von Sils Maria und auf einem Heiligtum der Römer gegründet. Rilke wohnte nur kurz im “Hotel Margna” in Sils Baseglia. Der höchstsensible Dichter litt öfters unter Niedergeschlagenheit. 1919 versackte er wieder einmal in Selbstzweifel. Der Fortgang seiner “Duineser Elegien” war stecken geblieben. Es ging nicht recht weiter und so suchte er sich in den Schweizer Bergen Inspiration. Er litt unter dem schwarzen Psycho-Loch, Churchill nannte es “meinen schwarzen Hund”. Rilke däute am gerade überlebten Ersten Weltkrieg, um den er sich durch erhebliche Protektion herumdrücken konnte. Zugegeben, er hätte einen erdenschlechten Musketier abgegeben. Schon vom Drandenken an den Krieg geriet der Poet in panischen Drehschwindel und war mit den Nerven völlig runter. Albrecht Graf von Bernstorff, der Diplomat und spätere NS-Widerstandskämpfer riet Rilke zum Aufenthalt in Soglio. “Das ist der Ort, wo Sie hinmüssten!” So geschah es dann auch und Linderung suchend begab er sich in die Schweiz. Er sollte nie mehr nach Deutschland zurückkehren.
Inga Junghanns, Ehefrau des Grafikers und Malers Rudolf Rainhard Junghanns verehrte den Dichter. In Dänemark geboren, war sie dabei Rilkes Dichtung “Die Aufzeichnungen des Laurids Malte Brigge” ins Dänische zu übersetzen. Zwischen Ihr und Rilke kam es zu einem lebhaften Briefwechsel, den man haarklein in einem Buch des Insel-Verlags nachlesen kann. Das Ehepaar Junghanns wohnte in Sils Baseglia. Beide befanden sich durch den angekündigten Besuch des Großdichters in Höchstaufregung. Ehefrau Inga war bereits durch den Briefverkehr auf den Besuch vorbereitet. Der verlief auch deshalb gottlob pannenfrei. Rilke kam, wie gesagt, zum Nächtigen im nahen Hotel unter, das er selbst bezahlen musste, da das Künstlerehepaar sowieso auf dem Ticket der Mittellosigkeit unterwegs war. Rilke weilte vom 24. bis 29. Juli 1919 in Sils-Baseglia, das direkt an den Silser See grenzt. Spaziergänge zur Halbinsel Chasté erfreuten des Dichters Gemüt. Dort umherzuwandern hatte bereits Friedrich Nietzsche temporär therapiert.
Es war der Morgen des 5. August 1919, Rilke verabschiedete sich, setzte sich in eine bestellte Kutsche und passierte mit dem Fahrer den nächsten Ort Maloja und das Atelier des berühmten Malers Giovanni Segantini.
Der Maler Giovanni Segantini
Anschließend tauchten Chauffeur und Poet den sturzsteilen Malojapass hinab, über 800 Höhenmeter. In Casaccia rumpelte das Gefährt am Hotel Stampa vorbei. Das gibt es immer noch und wurde von meinen Freunden Siffredo und Menga Negrini als B&B befeuert. Nach Jahrzehnten haben Sie es nun altersbedingt in gute Hände verpachtet. Die Straße senkt sich nun fortwährend sanft das Tal hinab. Links, steil oben rückt die Staumauer des Albigna-Sees ins Auge, rechts dann das Elektrizitätswerk Löbbia und bergan der kleine Weiler gleichen Namens. Kurz darauf folgt Pranzaira, heutzutage die Seilbahnstation die Touristen und Bergsteiger bequem zur Staumauer hinaufbefördert. Vom Stausee, nach kleiner, steiler Wanderung, wäre die Albignahütte zu erreichen, in der man sich mit Bier und Vesper ordentlich stärken kann.
Eva und ich fahren Rilke hinterher. Links zieht sich ein Sträßchen den Berg hoch nach Roticcio, einem Dörfchen mit dreißig Seelen aber beachtlichem künstlerischem Spirit, das unter anderem dem Künstler Martin Ruch zu danken ist. Wir folgen der modern ausgebauten Talstraße. Sie führt an der vorherrschenden Talgemeinde Vicosoprano vorbei, wir aber schlenkern unversehens nach rechts, um durch die Gassen des Bergeller Hauptorts zu fahren. Es ist der zweite Weihnachtsfeiertag und vielleicht hat das “Hotel Corona” geöffnet? Das Gasthaus bietet schöne Zimmer und sehr gute Küche. An der Türe hängt drögerweise ein Zettel der uns klar macht, dass im Winter geschlossen ist. Nun ja, es ist sicherlich angebracht, denn der Talgrund des Flüsschen Maira ist wie ausgestorben. Ich zeige Eva noch kurz die schönen Häuser mit burgdicken Mauern und Scraffiti.
Als nächstes bietet sich der Besuch eines Friedhofs an. Dieser ist für uns einige Minuten weiter im nächsten Ort, hinter der Kirche San Giorgio in Borgonovo. Nicht nur die Einheimischen, sondern auch die Seelen vom nächsten Dörfchen Stampa sind dort begraben. Der weltberühmte Künstler Alberto Giacometti stammte aus Stampa, einer ebenfalls berühmten Künstlerfamilie entwachsen. Wir stehen vor seinem Grab, eine Stele aus schlichtem Bergeller Granit. Ich erlebte den Ort noch in den Achtzigerjahren als eine Giacometti-Bronzeskulptur die Andächtigen erfreute. Irgendwann war sie mal verschwunden.
Schade, die Figur ist weg. Nachweislich gestohlen, mit unbekanntem Aufenthalt. Sie zeigte nicht den Künstler selbst. Für diese Skulptur saß der französische Fotograf Eli Lotar Modell. Nach Albertos Tod realisierte Bruder Diego Giacometti den Abguss.
Alberto Giacomettis Grab heute in Borgonovo
Liebe Laura,
meinen Bericht an Dich will ich fortsetzem. Gleich nach dem Friedhof, einige Minuten weiter grüßt das Ortsschild von Stampa. Am Ortsrand, rechts mit einem Parkplatz liegt breit das ehemalige Hotel Piz Duan das heute das “Centro Giacometti” www.centrogiacometti.ch/de beherbergt, gegenüber, etwas links ist das Wohnhaus von Giovanni Giacometti, Albertos Vater. Hier wurde der weltberühmte Alberto Giacometti geboren. Direkt an der Ortsstraße, aber mit einem wundervoll ruhigen und schönen Garten hinter dem Haus, empfiehlt sich ein B&B namens “Pontisella” www.pontisella-stampa.ch. Für Romantiker ist der Aufenthalt in den historischen Räumen eine Zeit des Glücks.
Eva und ich, wir fahren weiter, aber nur wenige Meter, wir sind am Ortsausgang und parken noch kurz vor der Ciäsa Grande www.ciaesagranda.ch/de. Es ist das örtliche Museum mit dem Atelier von Albertos Vater, dem erfolgreichen Neoimpressionisten Giovanni Giacometti. Über die Künstler aus diesem Tal zu berichten, insbesondere den Maler Varlin, der in Bondo lebte und dessen Ehefrau, die ich noch kennenlernen durfte, kann hier nicht weiters abschweifen, dvon ein ander mal.
Wir fahren an dem Märchenschlösschen Castelmur vorbei. Der Palast wurde vom Mailänder Architekten Giovanni Crassi-Marliani 1854 nach venezianischen Vorlagen gebaut. Seit 1961 ist dort das Archiv des Bergells untergebracht. Ein Besuch lohnt sich schon alleine wegen des Interieurs und der großzügigen Ausstattung. Überhaupt finden sich in diesem Tal außergewöhnliche Palazzi, nicht nur die des Adel- und Diplomatengeschlechts der Herren von Salis, sondern auch von Heimkehrern, die im Ausland als Zuckerbäcker und Cafétiers ihr Geld verdient hatten. Man fragt sich warum reiche Leute, wieder in dieses dunkle Tal zurückkehren? Das ist mythisch, weit mehr als Heimatgefühl. es liegt sicher auch am geradlinigen Charakter, dieser total Menschen, ich habe dort noch nie ein Polizeiauto gesehen. Wüsste auch nicht, wo eine Polizeistation ist, und so etwas rührt mich. Wer sich auch noch rühren möchte, anders als ich, dem Touristen sei gesagt, gemütliche Spazierwege gibt es wenige. Momentan wird ein Giacometti-Weg geplant. Möchte man wandern muss man auf alle Fälle eine bessere Kondition haben als ich. Wer nicht völlig bröselig ist, dem wäre der Plattenweg zuzutrauen. Dieser beginnt in Cassacia am Malojapass in 1495 Metern Höhe und zieht sich an der Sonnenseite des Tals nach Soglio, dem Sonnenbalkon in 1089 Metern Höhe. Größere Anstiege sind also nicht zu befürchten. Ein Großteil der Wanderer kommt extra wegen dieser Tour, die sich auf 14 Kilometer dehnt, aber auch zwischendurch unterbrochen werden kann. Der Weg nennt sich auch Sentiero Panoramico und bietet ein phantastische Sicht auf die Dreitausender. dort war ich als junger Mann oben und kann nicht behaupten, dass dies vernünftig war. Mittlerweile, mit dem Alter kommt die Nachdenklichkeit, und ich schaue mir die Berge von unten an und die Wirtschaften von innen. Mit Eva bleibe ich auf dem Talgrund und wir zockeln aber mit dem VW-Bus auf der Haupstraße talwärts. Rechts oben grüßt die Nordwand des Piz Badile. Ein magischer Berg. Mit der Eiger Nordwand und der Gandes Jurasses beim Montblanc, ist der Badile einer der drei prominenteste alpinen Gelegenheiten, um sich zu Tode stürzen.
Einige Sätze zu dem Bergsteiger Hermann Buhl
Ich will nun kurz von einem meiner Idole berichten. Es ist der Bergsteiger Hermann Buhl. Wie er die Nordwand des Piz Badile alleine durchstiegen hat, das ist für mich eine der unglaublichsten Leistungen des Sports. Man schreibt den 4. Juli 1952. Mit dem Abendschnellzug fährt Hermann Buhl von Innsbruck nach Landeck. Dort besteigt er sein Fahrrad. Es geht ständig bergauf. Glücklicherweise nimmt ihn ein Lieferwagen mit, und er hilft dem Chauffeur in gewissen Dörfern bei Hotels Marmeladeeimer abzuladen. So geht’s zwanzig Kilometer erholsam dahin. Anschließend wird auf dem Fahrrad ohne Gangschaltung weiter gestrampelt bis zum Passabsturz bei Maloja. Man fragt sich, wie die Bremsen des Drahtesels diese äußerst abschüssigen Serpentinen ins Bergell überstanden haben. Buhl radelt weiter bis Bondo und hat damit siebzig Kilometer auf dem Fahrrad hinter sich. Er steigt durch das Bondascatal hinauf, also das Tal, das 2017 die Bergmure hinnehmen musste. Auf diesem Weg kommt man zur Sasc-Furä-Hütte. Liebe Leserinnen und Leser, mittlerweile ist durch den Bergsturz der Weg noch länger geworden und wer konditionell nicht wirklich durchtrainiert ist, wird diesen Weg verfluchen. Ich hatte allein in jungen Jahren mit diesem Zustieg zu den Bergen, schon erhebliches Schwächeln, muss aber gleich dazwischen bekennen, dass ich nie ein guter Sportler war und schon gar kein guter Kletterer. Ich habe diese Berge immer von hinten angegangen, also von der Südseite, meistens mit einem kleinen Zelt und oft einer Übernachtung und einer Packung Miracoli-Spaghetti. Von der Südseite sind diese wilden Berge einfach zu besteigen, aber ganz hinauf bin ich nie. Ich bekam es jedesmal mit der Angst zu tun. Die Entfernungen sind beachtlich. Ganz anders auf der anderen, nördlichen Seite. Hermann Buhl marschiert bis zum Einstieg des Badile und baut ein kleines Zelt auf. Er hat ein bisschen Speck und Brot und fünf Franken in seiner Reisekasse. Siebzig Kilometer mit seinem vorsintflutlich Fahrrad hat er hinter sich und dann noch 2 Stunden Aufstieg, um an der 800 Meter hohen Wand sein Zelt aufzuschlagen. Ich als mittelprächtiger Wanderer hatte mindestens 4 Stunden benötigt.
Der Piz Badile ist 3308 Meter hoch. Die Erstbesteigung der Nordwand wurde von Riccardo Cassin bewältigt. Das war 1937. Cassins Seilschaft benötigte qualvolle drei Tage. Sie hatten allerdings noch Hanfseile, Nagelschuhe und gerieten in einen Schneesturm obwohl es mitten im Juli war. Das alles unter schwierigsten Kletterbedingen, die meiste Zeit im Schwierigkeitsgrad VI+. Zu den Erstbesteigern gesellte sich das Duo Mario Molteni und Guiseppe Valsecci, das etliche Probleme hatten. Riccardo Cassin, ein Weltklassemann verhalf den beiden hoch zum Gipfel, da sie einen Rückzug nicht überstanden hätten. Die beiden waren aber so entkräftet, dass sie beim Abstieg starben.
Nachts um zwei Uhr des 5. Juli 1952 machte sich Buhl an den Einstieg. wie gesagt achthundert Meter senkrechter, glatter Granit wollten erklettert werden. In seinem Buch Achtausender drunter und drüber, beschreibt er genau sein Vorgehen. Mir brach schon beim Lesen der Angstschweiss aus. Paralell zu ihm steigt auch eine italienische Zweierseilschaft, die Buhl überholt, da er ungesichert und deshalb ziemlich schnell ist. Gegen Mittag ist er auf dem Gipfel und wenig später treffen die beiden Italiener ein. Carlo Mauri und Vittorio Ratti sind beide bekannte und absolute Profis, sie kannten Buhl dem Namen nach und auch umgekehrt. Es gab ein große Hallo und Bergheil, dann machte sich Buhl eilends an den Abstieg über die Nordkante des Bergs. Er tritt in die Pedale, den Maloja hinauf und hunderfünfzig Kilometer weiter nach Landeck, um dort den Zug nach Innsbruck zu erreichen. Fünfzehn Kilomer vor Landeck, an der Landesgrenze bei der Pontlatzer Brücke schläft er ein und wacht mit Schreck im eiskalten Wasser des Inns wieder auf. Das erfrischte ihn gehörig. Er zieht sich die Böschung hoch. Das treue Rad ist ziemlich verbogen. Er schultert sein Gefährt und marschiert bis zum Gasthaus “Zum alten Zoll”. Nach stundenlagem Warten nimmt ihn ein Postauto mit nach Landeck auf den Zug.
Die Kletterei ist ein sehr schöner und gesunder Sport. Im zweiten und dritten Grad fühlte ich mich sehr wohl. Einmal kletterte ich ein ein kurzes Stück im 5 Grad. Ein erfahrener Kamerad stieg voraus und ich war optimal gesichert. An einer Stelle ging es für mich nicht mehr weiter und ich war der Panik nahe. Von oben schrie es: “Verdammte Memme, ich hab dich am Seil, mach dass du endlich raufkommst!” Ich riss mich am Riemen und schaffte die Stelle. Freude konnte ich nicht empfinden. Als Koch hat man ja schon genügend Schwierigkeiten das Leben zu meistern, dann muss es nicht auch noch das Besteigen der “Fiamma” sein. Ganz klar, hinterher war ich dann trotzdem stolz.
Einmal und nie wieder! Foto von Lino Schmid
Anfänger beginnen mit einfachster Kletterei, dann aber kommt der Trieb nach “Höher und Weiter”. Pathologischer Ehrgeiz kann noch dazu kommen und alles wird zur Sucht. Irgendwann steht man am Fuße des Himalaja vor den Achtausendern, inmitten von Bergjunkies.
Hermann Buhl war von solchen Symptomen vielleicht nicht ganz frei, aber insgesamt sehr besonnen, professionell und von fast übermenschlicher Kondition. Er bestieg den Nega Parbat (8125 m) ganz alleine. Eine wirkliche Großtat. Bei all seinem Können: um das zu überleben, braucht es auch ein bisschen Glück, eine enorme Charakterfestigkeit, stahlharten Willen und eine Portion Leichtsinn. Seine erforenen Zehen hatte er am Nanga-Parbat zurückgelassen und so war es mit diffizil-alpiner Felskletterei vobei und er konzentrierete sich aufs Höhenbersteigen. Das war 1953, es folgte 1957 der Broad Peak (8051 m) und im selben Jahr der daneben aufragende Chogolisa. Bei solchen Unternehmungen ist präzise Vorbereitung Bedingung. Was man jedoch nicht einplanen kann, das wären Wetter, Lawinengefahr und Höhenkrankheit. Im Gipfelbereich des Chogolisa brach Schneewächte und riss meinen Helden in den Abgrund. Er wurde bis heute nicht gefunden.
Von der anderen Talseite, von Soglio aus, der Piz Badile
Die Faszination des Bergeller Tals ist die meterologische Handreichung zwischen Nord und Süd. Im August bin ich am Cacciabellpass bei der Scioragruppe in einen Schneesturm geraten, habe dann umgedereht und bin wieder zurück zur Albigna-Seilbahn. Ein halbe Stunde später war ich in Bullenhitze unter Palmen in Chiavenna. Ein Höhenunterschied von fast 2000 Metern.
Mit Eva im VW-Bus fahren wir auf der Landstraße weiter. Links neben dem Badile ragt wie eine Nase, die Einheimischen sagen auch “Bügleisen”, der Piz Cengalo ins Tal. Zwischen beiden Bergriesen wälzte sich 2017 eine Mure aus Geröll, riesigen Felsen und Wasser durchs Bondascatal hinab. Den Weg bin ich vor vierzig Jahren schon oft gegangen. Drei Millionen Kubikmeter wälzten sich vor wenigen Jahren rasant durch das Tal des Bächleins Bondasca. Es ereignete sich genau am 23. August 2017. Acht Wanderer, auf dem Waldweg wurde nie mehr gefunden, und einige Liegenschaften in Bondo sind auch abgängig. Nach Bondo kam ich das erste Mal im Jahr 1985. Ein befreundeter Dichter der in der Dachkammer meines Restaurant Postillon in Schwäbisch Gmünd Unterkunft gefunden hatte, dieser Walter Gröner, lockte mich in diesen Ort. Dieser Hinweis muss erst einmal genügen, davon ein andermal mehr.
Bondo, ein besonderer Ort muss ich Eva genauer zeigen. Wir parken am untern Ende der Straße, die sich bis zur Kirche hinzieht. Die mit Steinplatten gedeckten Häußer wirken stabil und geduckt wie kleine Burgen. Gleich neben dem Parkplatz breitet sich das Palazzo Salis aus. Salis-Palazzi gibt es in der Gegend einige. Irgendjemand nannte diese Gebäude Schlösschen. Das finde ich ziemlich irreführend, es sind sehr große, enorm stabile Herrenhäuser aus Granit oder Kalkstein. Stilistisch sind sie eine Mischung der alpinen Bauweise, der Renaissance und des Barock. Man könnte sie als Kolosse bezeichnen, aber trotzdem atmen sie eine südliche Anmut. Das Geschlecht der Salis (Salis=Wiese) stammt aus dem Bergell und ist seit dem 13. Jhrd. eine der mächtigsten Familien Graubündens. Sie arbeiteten als Diplomaten, Militärführer oder aber im Falle von Jean Rudolf von Salis, als Geisteswissenschaftler. Mit Eva schlendere ich durch die Gassen. Der Maler Varlin, einer der ganz großen Maler der Schweiz hatte Franca Giovanoli aus Bondo geheiratet und diese sonnenlose Talschaft wurde sein bevorzugter Wohnsitz. Ich erinnere mich noch an die Witwe. In einer engen Gasse stand in ihrem Fester oberhalb der Haustüre eine lebensechte Statue ihres Mannes dem Malers Varlin. Er schaute so zwingend und gezielt, dass ich beim Vorübergehen jedesmal etwas erschrak. Varlin, mit bürgerlichem Namen Willy Guggenheim, der Freund von Friedrich Dürrenmatt, schuf ein monumentales Gemälde, das im Nachbarort oberhalb, in der Chiäsa Grande” eine ganze Raumfront einnimmt. Mein Lieblingslokal weltweit ist die “Kronenhalle” in Zürich. Die Wirtin Hulda Zumsteg war das Vorbild meiner Frau. In diesem Lokal kann man der Meisterschaft des Varlin huldigen. Das Portrait der Wirtin, die ich mit meiner Elisabeth noch kennenlernen durfte, zeigt die Meisterschaft des Porträtisten.”
Hulda Zumsteg ist eine eigene Geschichte wert, irgendwann werde ich mich dazu aufraffen.
Über Bondo gäbe es noch viel zu erzählen, aber davon ein andermal. Gleich nebenan fahren wir über die alte Brücke in Promontogno, rechts ist die berühmte und immer noch fleißig mahlende Scartazzini-Mühle direkt über dem Fluss. In drei Minuten sind wir auf der schmalen Straße durch die Maronenwälder mit ihren Steinhütten in denen die Früchte der Edelkastanien aufbewahrt werden. Der Asphalt windet sich der Sonne entgegen nach Soglio, das Rilke “Paradies nannte.
Soglio im Winter 1986 (Mamyja 6×7)
Am 5. August 1919 schrieb er an Sidonie Nádherny über sein Eintreffen in Soglio. Es war auch die Rede von einem Bergnest. Seine Kutsche entlud ihn in Promontogno. Das Gefährt war weg und die Postkutsche auch. Obwohl frühell des Mittags, die nächste Fahrt sollte sich erst um 21 Uhr auf die Höhen von Soglio bewegen. Ein Paketkutscher der Gepäck transportierte, ließ sich schließlich erbarmen und nahm den Gestrandeten am frühen Vormittag mit hinauf auf die Höhe, vom Schatten ans Licht. Er bezog Quartier im Hotel Palazzo Salis.
Soglio von oben, Weihnachten 2024
Hotel Palazzo Salis, damals auch Pension Willy genannt: Rilke schrieb an Sidonie Nádherny: “Déjeuner in dem alten Esssaal zu ebener Erde, den Sie kennen, an einem für mich vorbereiteten Tisch. Außerdem sind drei Tische besetzt, einige Personen an je einer der langen Tafeln, ein paar davon, vermutlich Passanten und mir nah am Fenster, an einem runden Tisch, eine Dame mit vier schönen Kindern und einer japanisch aussehenden Erzieherin”. Die herrenlose Familie – Rilke irrte sich, es waren nur drei Kinder-. machten auf Rilke schwer Eindruck. Die Mutter der Kinder, Frau Gudi (Auguste) Nölke, eine ausnehmend schöne und einigermaßen kapitalisierte Dame, sollte in Rilkes Leben noch eine Rolle spielen. Über den späteren Briefwechsel gibt es im Inselverlag ein ganzes Buch.
Das Hotel Palazzo Salis, ohne Sonnenschirme und Gäste,
verlassen wie der ganze Ort. Weihnachten 2024. Das Hotel war in den letzten dreißig Jahren keineswegs optimal bewirtschaftet. Doch immer wieder geschehen Wunder. www.palazzosalis.ch
Am Nachmittag entdeckte der Dichter den Rosengarten hinter dem Haus, den ein hoher Sequoia-Baum schmückt. Ich war öfters dort und das Essen war keineswegs exquisit. Kürzlich, ich hatte das ganz vergessen, erzählte mir ein Freund, dass ich mit ihm an einem Rosenbusch gesessen und erstaunt auf mein Essen blickte. Eine überschallrote Puschkinkirsche krönte damals die Speise. Diese plastikartigen, übelst parfümierten Kunstkugeln kennt heute kaum mehr jemand. Wie der Kumpan mir erzähle, hatte ich die Kirsche ins Publikum gefeuert und sofort ringsum meinen Kopf kreisen lassen, wer das verdammte Ding wohl abgefeuert habe. Wie auch immer, Rilke erholte sich gut hatte jedoch Probleme mit dem Lesestoff. Rainer Maria Rilke war ein Spezialist, sich an hilfreiche Frauen zu hängen, ertrug aber den Umkehrfall nur widerwillig. Wollte man ihm übel nachreden, könnte man ihn auch als einen Trittbrettfahrer etikettieren. Im schwäbischen gibt es dafür den ergänzenden Ausdruck “Draufstander”. Er beherrschte die Kunst überall “wo es warm heraus kam”, in höflichster Manier, mit exquisiten Umgangsformen, wohlgelitten zu sein. Der Mann sah verdammt gut aus und tat sich mit Frauenbekanntschaften leicht. Er kam aber Zeit seines Lebens keiner so nahe, dass Liebeshändel zu einer sozialen Missernte geführt hätten. Soweit ließ er es nicht kommen. Briefeschreiben zog er letztlich Umarmungen vor. Mit Frau Gudi Nölke begann eine Jahrelange Brieffreundschaft. Sie hat ihn keinesfalls, wie manchmal behauptet wird, nach Soglio gelockt, sondern ihn dort erst kennengelernt. Madame machte es möglich, dass Rilke den Schlüssel zur Bibliothek der Salis bekam. Für den Dichter war das die Rettung. Soglio bot schöne Aussicht auf furchterregende Felszacken, das Gemecker von Ziegen, aber ansonsten wenig Kurzweil. Die Bibliothek war für Ihn ein Abenteuerspielplatz ersten Ranges. Allein schon der Geruch der alten Bücher, der Schränke, der Schubladen vernebelten ins Schöngeistige bis zurück ins 17. Jahrhundert. An Katharina Kippenberg, sie ist die Vertraute von ihm und die Frau des “Insel-Verlegers”, schreibt er am 11. augut 1919: “Da habe ich nun meine rein eigentümliche Zurückgezogenheitin einem Louis-Quatorze-Sessel und lese, an ein Spinett gelehnt, in den alten Almanachen… In der umfangreichen Bibliothek hat auch Goethes “Wilhelm Meister” eine Heimat gefunden. Der Dichter, sowieso inmitten melancholischen Lähmungserscheinungen, zieht aus dieser Bibliothek beträchtlich geistige Erfrischung und Ablenkung. Jetzt wird sich mancher sagen, woher ich das alles weiß. Also, zum einen haben sich über die Jahrzehnte viele Bücher über und von Rilke in meinem Regal einquartiert. Wer über Rilkes Soglio-Aufenthalt munter, kurz und effizient sich bereichern möchte, dem sei ein schmales Bändchen aus dem Calanda-Verlag in Chur empfohlen. Es ist von Hans-Joachim Barkenigs kompetent und flüssig geschrieben und hat den Titel “Nicht Ziel und nicht Zufall. Rainer Maria Rilke in Soglio.
Als Eva und ich am zweiten Weihnachtfeiertag in wärmen der Sonne, stehen wir vor dem Palazzo Salis in Soglio und unser Hunger kratze schon am Bauchfell. Wir hatten uns auch keine Chance ausgerechnet, dass im Winter dieses schöne Hotel geöffnet sei. Wir spazierten durch die Gassen. Ich suchte vergebens nach Ziegen, die es bei meinem letzten Besuch noch haufenweise gab. Der Ort war komplett ausgestorben. Wir hatten unterhalb des “Hotels La Soglina” geparkt, das durchaus zu empfehlen ist, waren aber zu faul dort hinaus zu eiern. So fuhren das Dorf hinab, um das Restaurant “Stüa Grande” auszukundschaften. Mist, Baustelle, kleine Klettertour, es half nichts, auch dort über die Feiertage war geschlossen.
“Ach was”, sagte Eva wir fahren das Tal hinunter nach Chiavernna, wir sind dann in Italien und dort wird Weihnachten nicht nur begangen oder das Jesulein besungen, sondern für Italiener ist Weihnachten, da haut man auf die Pauke und feiert ein Fest!” Also los ins Tal hinab, durch den Maronenwald mit seinen wuchtigen kleinen Steinschuppen, allesamt mit Granitplatten gedeckt. Ein Hain in mattem Wintergrün in denen die Sonne dazwischen hellen Lichtfäden zieht. Sommers eine Ziegenweide und für uns heute ist’s eine wahre Augenweide. Wir sind an der Hauptraße und fädeln uns in eine riesige Betonschleife ein, eine Art riesige Apfeltasche die sicher Millionen gekostet hat. Sie schützt den Ort Bondo, als Wall und Umlenkung vor weiteren Muren und Bergstürzen, die das Bondascatal hinabknattern könnten. Andernfalls hätte man dieses bauliche Juwel aufgeben müssen, ein Ort der Schönheit, der ein Anrecht auf’s Weltkulöturerbe hat.
Es geht auf Castasegna zu, die Grenze der Schweiz, nicht aber des Bergells. Das Valle Bregaglia endet erst in Chiavenna. Im Mittelalter, auch schon bei den Römern wurde es “Cleven” genannt, das Wort für Schlüssel. In diesem Wort steckt heute noch in der Ortsbezeichnung Chiavenna, dem Schlüssel nach Osten über die Alpen über den Septimerpass und dann zum Julier (Julius Cäsar), ein uralter Römerweg.,
Gleich nach der Grenze in Italien hängt der Himmel voller Schinken. Die Spezialität des Bergells und des benachbarten Veltlins ist ein Rinderschinken namens “Bresaola”. Links ein riesiger Parkplatz und rechts die Reklame “Grotto Ghiggi”. Im Sommer grüßen dort Biertische, Vesperplatten und Weinpullen. Heute ist geschlossen. Wir kommen an Piuro vorbei, die letzte Ortschaft vor Chiavenna. Das alte Piuro gibt es nicht mehr. Im Jahr des Herrn 1618 nannte sich der Ort noch Plurs und war berühmt für Kunstwerke aus Speckstein, im Bergell auch Lavezstein genannt. Der Name beruft sich auf das Lateinische “Lavare” das waschen bedeutet.
Aus dem weichen Stein wurden Töpfe, Schalen, Becher und auch Waschschüsseln gedrechselt. Übermäßiger Abbau des Lavezsteins unterhöhle damals den Berg namens Monte Conto. Das ganze Massiv krachte zu Tal, so dass der Fluss Maira einen Stausee füllte. Vom Ort war nichts mehr zu sehen, außer dem Kirchturm der bis heute aus den Steinen ragt. Der damalige Landvogt Fortunat Sprecher berichtete darüber. Sein Zeitgenosse, der Historiker Benedetto Parravicini schätzte die Zahl um auf 1200 Tote. Der Aberglaube ließ nicht lange auf sich warten. Da die Bürger von Plurs mit ihren Steintöpfen umfangreich Export betrieben und reich waren, lag nichts näher, das Unglück als Gottestrafe zu etikettieren. Neid als menschliche Konstante seit der Steinzeit.
All das erkläre ich Eva, die plötzlich aufmuckt:” Du, da war eine Kneipe mit unglaublich vielen Autos davor!” Ich litt bereits etwas unter Auszehrung und stieg voll in die Eisen. Umdrehen und zurück. Tatsächlich mindestes fünfzig Autos und mit Ach und Krach konnten wir noch unseren VW-Bus ins hinterste Eck des Parkplatzes drücken. Eva wurde als Spähtrupp ins Lokal geschickt und winkte allsbald ich solle nachkommen. Ich also durch die Türe und dann der Schock: Mir riss es fast die Ohren ab, unglaublicher Lärm von sicherlich hundert Gästen, Kindergeschrei, zornige Väter, keifende Mütter, ausgelassene Fröhlichkeit und vorwiegend Lachkrämpfe ringsum. Kurz gesagt, wir waren in eine italienische Fressorgie geraten, die keinerlei Weihnachtsgesäusel bot. Hier feierte sich ein Kampfplatz der Esslust, der ans Oktoberfest erinnerte. Der Schuppen, angefüllt mit Großfamilien, nennt sich “Agritourismo Aqua Fracta” und so ein Familiengeschwirrl gibt es in Deutschland nicht. Ich fühlte mich pudelwohl, hier pulsierte der italienische Frohsinn, hätte nur noch ein Rossini-Tenor gefehlt. Um uns Beide tobte eine ausgelassene Freude von Rabelais’scher Heftigkeit. Wunderbar! Wir bestellten Wasser und einen Krug Rotwein. Weinflaschen zu öffnen lässt solcher Geschäftsgang nicht zu. Wir wurden auch knapp angeherrscht “Rot oder Weiß”. Die rüde Art konnte ich wohlmeinend akzeptieren, die Bedienung, eine der Töchter des Hauses war mit den Nerven ziemlich auf Sotto Zero, aber eine halbe Stunde später war das hübsche Mädchen wieder obenauf.
Das gab es und basta. Mutter und einige Töchter wurstelten in der Küche und trugen auch die Teller ins Volk. Alles Marke Eigenbau und richtig gut gekocht. Wenn in Italien Frauen in der Küche sind, beruhigt mich das immer kolossal. Italienische Nonnas und Mamas haben beruflich großes Ethos. Italienische Männer nehmen beim Kochen gerne irgendeine Abkürzung, die meist nicht von Erfolg ist.